Mittwoch, 4. Januar 2012

10. Kapitel: Zusammen oder getrennt?

„Ja, einen Drachen“, sagte er, scheinbar etwas abwesend. „Wissen Sie, Frau Mayer-Galotti, ich glaube, Bock hat gar nichts mit all dem zu tun. Nach dem, was ich von ihm weiß, halte ich ihn schlicht nicht für fähig dazu. Wie auch immer er zu der Mail meines Auftraggebers gekommen ist – es muss ein Zufall gewesen sein.“
„Das ist gut möglich“, meinte Verena. „Aber jetzt ist Bock tot. Und nicht nur er, sondern auch noch eine Zeugin. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe deswegen. Wir hätten sie schützen müssen. Ich gehe davon aus, dass wir es mit ein und demselben Mörder zu tun haben. Diese Abfolge ist zu auffällig. Die Frau war ansonsten völlig unbescholten, niemand wäre auf die Idee gekommen, sie umzubringen.“ Außer ich, dachte sie, aber das behielt sie für sich. „Natürlich kann Bock von allen möglichen Leuten umgebracht worden sein. Er war ein Ekel. Wir gehen noch der Spur mit dem Arbeitskollegen von ihm nach, der scheint ihn jedenfalls nicht gemocht zu haben. Aber wissen Sie, warum ich ziemlich sicher bin, dass diese Bildergeschichte dahintersteht?“
„Die tote Zeugin.“
„Genau. Dieser Zusammenhang drängt sich geradezu auf.“
Jetzt schwiegen beide. Verena nippte an ihrem Wein und betrachtete ihr Gegenüber. Mir drängt sich ja noch etwas anderes geradezu auf, dachte sie. Warum muss dieser Mann ausgerechnet in Argentinien wohnen? Wenn mir schon mal jemand gefällt. Bald wird er zurückfliegen und aus meinem Leben verschwinden. Es ist ein Jammer.
„Woran denken Sie?“, fragte Ari Kelch.
„Ach – ich … Ich dachte über den Fall nach“, log Verena.
Ari Kelch schmunzelte, als hätte er ihre Gedanken erraten.
„Wissen Sie, was eigenartig ist?“, sagte er, „mein Auftraggeber wollte jeden Tag einen Bericht per Mail von mir. Und die ersten drei Tage hat er immer sofort darauf geantwortet und mir neue Instruktionen gegeben. Er schien sehr interessiert an Bock zu sein, stellte immer neue Fragen. Schließlich habe ich ihm die Mappe mit allen gesammelten Informationen und Fotos zugeschickt. Eben allerdings ist mir eingefallen, dass er schon ein paar Tage, bevor Bock ermordet wurde, gar nicht mehr auf meine Mails reagiert hat. Und zu der Mappe hat er sich auch nie geäußert. Er schien ganz plötzlich alles Interesse verloren zu haben.“
„Das ist allerdings merkwürdig“, räumte Verena ein.
Wieder versanken beide in Schweigen. Der Kellner kam und erkundigte sich, ob sie noch Wünsche hätten. Spontan schlug Verena einen Spaziergang vor. Sie hatte das Gefühl, gedanklich festzustecken, sich bewegen zu müssen. Ari war einverstanden und verlangte die Rechnung.
„Getrennt oder zusammen?“, fragte der Kellner.
„Getrennt!“, sagte Verena im selben Moment als Ari „Zusammen!“ sagte.
Dank ihres klingelnden Handys wurde Verena einer Diskussion über „getrennt oder zusammen“ entbunden. Es war ihr Kollege, der ihr mitteilte, er hätte soeben mit dieser Table Dancerin Linda gesprochen. Das Alibi von Kamm sei wasserdicht, da sich sogar Lindas Kolleginnen an den Abend und an Kamms Anwesenheit erinnerten.
Als sie das Gespräch beendete, hatte Ari bereits die Rechnung bezahlt. Auf ihren Protest hin hob er die Hand: „Es ist mir eine Ehre, wirklich. Ich würde es auch tatsächlich gern öfter tun, wenn Sie es mir erlaubten.“
Verena war sprachlos.
Sie schlenderten an der Spree entlang, und hier, im Schutz der Dunkelheit, wagte Verena, Ari zu fragen, wie lange er denn vorhätte, noch in Berlin zu bleiben.
„Das kommt darauf an“, entgegnete er.
„Worauf denn?“
„Wie lange Sie mich ertragen, nicht wahr? Erst einmal habe ich Ihnen ja meine Unterstützung für den Fall zugesagt. Das heißt, wenn Sie erlauben, werde ich mindestens so lange bleiben, bis der Fall gelöst ist. Und danach …“, er machte eine bedeutsame Pause, blieb stehen und sah Verena an, „danach würde ich Sie fragen, …“
Verena hielt die Luft an.
Ein schriller Klingelton unterbrach die Stille zwischen ihnen.
„Entschuldigung“, murmelte Verena und nahm ab. „Mayer-Galotti?“
„Hier ist Ralf, ich wollte dir...“
Verena war auf Hundertachtzig. „Sag mal Ralf, was soll das denn! Es ist fast 23 Uhr! Hab ich überhaupt kein Privatleben mehr!?“
„Na dann nicht. Ich wollte dir nur das Neueste zum Fall erzählen. Aber bitte, wenn es dich nicht interessiert, dann erfährst du es eben morgen.“
„Jetzt spiel nicht Kindergarten. Sag schon.“
„Die Kollegen haben den ‚Affen‘ gefunden. Er ist hier. Und heißt tatsächlich Hans Müller. Du glaubst es nicht, er sieht allen Ernstes so aus wie auf dem Phantombild. Und die Waffe haben sie auch. Wurde uns eben reingebracht.“
„Heißt das, du bist immer noch auf Arbeit? Und kannst du mir mal verraten, warum du hier über Dinge redest, die überhaupt nicht in deinen Bereich fallen?“
Ralf räusperte sich. Es war deutlich zu hören, dass er sich bemühte, sich seine Kränkung nicht anmerken zu lassen. „Hör zu Verena. Ich – ich wollte Dir eine Freude machen, ja? Ich dachte -. Das ist doch ein toller Fortschritt, oder? Du kannst ihn morgen verhören! Sag mal, was hältst du davon, wenn wir uns treffen? Ich mache Feierabend und hole dich irgendwo ab? Ich könnte dich zum Essen einladen.“
Verena wäre fast explodiert. „Danke für die Info! Und: nein, halte ich nichts von. Bitte, gib es auf, Ralf, ja?“
„Aber -“
Sie legte auf.
Ari schmunzelte. „Ein Verehrer?“
Und als Verena, die noch damit zu tun hatte, ihren Ärger abzuschütteln, nicht antwortete, setzte er hinzu: „Ich kann ihn verstehen.“
Verena war so nervös, dass sie einfach weiterging. „Es gibt etwas Neues“, sagte sie. „Sie haben den Mann, der die Waffe gekauft hat.“
„Großartig! – Sagen Sie einmal, um auf Ihre Bemerkung am Telefon zurückzukommen: arbeiten Sie eigentlich immer vierundzwanzig Stunden täglich?“
„Gegenfrage“, konterte Verena. „Was würden Sie mich fragen, wenn der Fall gelöst ist?“   


Dienstag, 3. Januar 2012

Kapitel 9: Der Besuch beim Drachen

Das Vorsprechen im Theater für die Rolle des Revisors lief miserabel.
„Sie müssen mehr Witz in Ihre Rolle bringen, sonst wird das Stück langweilig!“, forderte der Regisseur Konrad auf.
Konrad gab sich Mühe, aber er war nicht witzig, und er fühlte sich auch nicht so.
Als er das Theater nach dem Vorsprechen verließ, wußte er, dass er die Rolle nicht bekommen würde.
Er war enttäuscht, schob die Enttäuschung aber von sich:
‚Vielleicht ist es besser so. Ich habe den Kopf sowieso gerade mit wichtigeren Dingen voll. Hoffentlich ist das Geld da!‘, sagte er zu sich selbst.
Langsam lief er zur Western Union Bank. Wenn alles gut ging, lag dort eine Menge Geld für ihn bereit. Der „Drache von Tarascon“ hatte es ihm einen Tag zuvor telefonisch versprochen.
Konrad hatte ihn angerufen und dieses Mal ganz augenscheinlich den richtigen Kaufinteressenten kontaktiert.
„Qui?“ hatte dieser mit einer alten Raucherstimme in den Hörer gesprochen.
„Bessi hier,“ hatte Konrad geantwortet. „Sie haben mich wegen des Bildes kontaktiert.“
„Warum melden Sie sich erst jetzt?“ frage die Raucherstimme am anderen Ende.
„Ich habe mich bei der ersten Kontaktaufnahme in der E-Mailadresse geirrt. Es war ein Versehen.“
„Ich verstehe,“ antwortete der Alte zögerlich.
„Wie darf ich Sie nennen? Verraten Sie mir Ihren Namen?“, fragte Konrad.
„Nennen Sie mich ruhig Herr Drache. Ich möchte gern anonym bleiben.“
„Nun gut, Herr Drache. Mir ist zwar unbehaglich dabei, da Sie meinen vollen Namen kennen, aber ich akzeptiere Ihren Wunsch.“
„Ich möchte mir das Bild gern ansehen, bevor ich es kaufe. Wie wäre es, wenn ich Sie besuche?“
„Wie bitte? Nein, das geht auf gar keinen Fall!“, lehnte Konrad ab. „Sie kennen meinen Namen, und jetzt soll ich Ihnen auch noch meine Adresse geben, ohne etwas über Sie zu wissen? Sie könnten von Interpol sein und mir beim Öffnen der Tür Handschellen anlegen. Sie könnten auch ein Raubmörder sein und mich in meinem eigenen Haus umbringen und das Bild stehlen! Das Risiko kann ich nicht eingehen!“
„Denken Sie nicht, dass ich schon längst getan hätte, wovor Sie Angst haben, wenn ich von Interpol oder ein Raubmörder wäre? Wissen Sie nicht, dass ich schon längst weiß, wo Sie wohnen?“
Konrad überkam ein kalter Schauer. Ihm war unwohl zumute. Er konnte hören, wie der Drache einen Zigarettenzug inhalierte und ausatmete.
„Nun gut,“ sagte der Drache langsam. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich überweise Ihnen morgen eine Million Dollar per Western Union. Das Passwort zur Abholung ist ‚Drache von Tarascon‘.  Sobald Sie das Geld bekommen haben, buchen Sie einen Flug nach Tarascon. Sie verpacken das Bild als Sportgerät und geben es als solches am Schalter für Spezialgepäck auf. Gehen Sie in einen Sportausstatter und suchen Sie sich etwas, womit man Snowboards oder Schlitten transportiert. Sie werden schon etwas finden. Oder geben Sie das Bild als Musikinstrument auf und besorgen Sie sich einen Keyboard-Kasten. Am Flughafen werde ich Sie abholen und in mein Schloß bringen. Wenn Ihr Produkt in Ordnung ist, überweise ich Ihnen den Rest des Geldes in Ihrer Anwesenheit und Sie fliegen ohne Bild zurück.“
„Ich werde meinem Freund bescheid sagen, dass er die Polizei rufen soll, wenn ich nach drei Tagen nicht zurück bin!“, antwortete Konrad. Er überlegte verzweifelt, wo der Haken an dem Plan des Drachen sein könnte, an welcher Stelle, der Drache ihn überrumpeln könnte. Aber ihm fiel nichts ein, und die Drohung war das einzige, was ihm zur eigenen Absicherung in den Sinn kam.
„In Ordnung.“, antwortete der Drache und legte auf.
Das Geld war tatsächlich überwiesen.
Der Mann am Schalter erfragte das Passwort und zog sich, nachdem Konrad es ausgesprochen hatte, für einen Moment in die hinteren Räume zurück. Dann kam er wieder und bat um etwas Geduld. Eine Stunde später verließ Konrad mit der kompletten Auszahlung die Bank. Es war unglaublich, aber es funktionierte.
Zuhause angekommen, buchte er einen Flug nach Tarascon. Dann teilte er das Geld durch vier und brachte jeweils eine viertel Million auf zwei verschiedene Konten, packte ein Viertel in seinen eigenen Safe und brachte das verbleibende Viertel zu Martin.
„Martin, ich will, dass Du dieses Geld bei Dir unterbringst. Wenn mir etwas passiert, gehört es Dir. Wenn ich in drei Tagen nicht zurück bin, kontaktiere die Polizei, hörst Du?“
Er ließ Martin, der ein erstauntes Gesicht machte, nicht weiter zu Wort kommen.
„Ich hab’s eilig. Versprichst Du mir, worum ich Dich bitte?“
„Ja“, stammelte Martin nur, bevor Konrad davoneilte. „Ich muss das Bild verpacken und noch ein paar Besorgungen machen“, entschuldigte sich Konrad und blies Martin einen Abschiedskuss zu.

Die Verpackung des Bildes war ein Akt, aber dank der Ratschläge des Drachen, wußte Konrad, wonach er suchen musste. Er fand schließlich einen Schalenbehälter für eine Ski- oder Snowbord-Ausrüstung, der groß genug war, um das Bild darin zu verstauen.
Das Personal am Flugschalter stellte weniger Fragen als gedacht. Sportgepäck wurde ohne viel Aufhebens als zweites Gepäckstück entgegen genommen.
Auf dem Flug versuchte Konrad seine Nervosität in Beck‘s Bier zu ertränken. Der Gedanke daran, dass sein millionenschweres Bild unversichert als Sportgepäck im Cargobereich mitflog, ließ seinen Adrenalinpegel steigen. Und ihm war mulmig zumute, was den Handel anging.
Immer wenn er seine Augen schloss, hörte er das Inhalieren des Zigarettenrauchs am Telefon.
Schließlich landete der Flieger in Toulouse, und eine Stunde später brachte ihn ein kleineres Flugzeug sicher nach Tarascon.
Am Flughafen wurde Konrad von einem Chauffeur erwartet. Dieser trug ein Schild mit Konrads Namen drauf, damit Konrad auf ihn aufmerksam wurde.
„Darf ich Sie bitten, mir zu folgen?“, fragte der Chauffeur höflich.
Konrad nickte müde. Auf dem Gepäckwagen vor ihm lagen ein kleiner Koffer-Rolli und eine große Sportausrüstung.
Der Chauffeur fuhr durch eine kleine Stadt mit verfallenen Häusern und Kletterrosen, die an ihnen emporrankten. Konrad war so von den Rosen in den Bann gezogen, dass er außer ihnen nichts anderes sah.
Ein paar Cafés, ein alter Springbrunnen, ein Antiquitätenladen zogen an ihm vorbei, und überall an den Häuserwänden blühten rote, rosafarbene oder weiße Rosen.
Schließlich bemerkte Konrad eine Burg, ein kleines Schloß. Sie fuhren direkt darauf zu. Er erinnerte sich, dass der Drache von einem Schloß gesprochen hatte. Es mußte also seines sein. Es war ein kleines gothisches Burgschloß mit vier Türmen an dem Ecken, die durch vier hohe Mauern verbunden waren. Im ersten Stockwerk gab es keine Fenster, nur Schießscharten. Der Eingang wurde durch ein schweres Rolltor verschlossen, öffnete sich aber als das Auto näher kam.
Der alte Bentley hielt vor dem Schloßeingang an. Der Chauffeur bot an, Konrads Gepäck hinein zu tragen, aber Konrad trug es lieber selbst.
Er betrat das Schloß mit weichen Knien.
Der Chauffeur führte Konrad in die Bibliothek und hieß Konrad an, zu warten. Und da waren sie alle versammelt: alle Bilder von Vincent Van-Gogh, die im Titel „Tarascon“ trugen.
Was für ein Anblick!
Und dann erschien ein Mann, ganz in weiß, mit einer chinesischen Drachenmaske auf dem Gesicht.
Konrad erschrak.
„Wer sind Sie?“ fragte er.