Samstag, 28. Januar 2012

15. Kapitel: Ari verschwindet


Verena verschlug es die Sprache. Ein Wust unterschiedlichster Gefühle kochte in ihr hoch. Verwirrung, Scham, Entsetzen, Wut. Sie biss die Zähne zusammen, bis ihr Kiefer schmerzte. Am liebsten hätte sie Ari ihren Ellenbogen in den Magen gestoßen, ihn geschlagen und angeschrien. Stattdessen saß sie angeschnallt neben ihm und rührte sich nicht. Benutzt, hämmerte es in ihrem Kopf, benutzt, er hat mich benutzt. Er liebt mich überhaupt nicht! Und ich Schaf habe mich darauf eingelassen, habe diese Nacht zugelassen, statt meine Bedenken ernst zu nehmen! Gleich, als das mit seinen Eltern raus war, hätte ich weiterfragen müssen. Wie unprofessionell bin ich eigentlich! War es etwa auch ein Auftrag, dass er mit mir schläft?!
Sie versuchte, sich zusammenzureißen. Langsam zu atmen. Ihr Gefühls-  und Gedankenknäuel zu entwirren. Der Mossad, was wusste sie darüber? Er war vergleichbar CIA und BND, aber sie hatte mal gehört, dass die Befugnisse dieses Geheimdienstes wesentlich weiter reichten. Sie wusste zu wenig. Vor langer Zeit hatte sie mal etwas darüber gelesen. Jetzt fiel ihr ein, dass es der Mossad gewesen war, der 1960  den Kriegsverbrecher Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt und nach Israel entführt hatte. Wo er zum Tode verurteilt worden war. Sie arbeiteten oft mit Entführungen und Bomben. Hatten sie nicht auch in den siebzieger Jahren einen arabischen Schriftsteller getötet, weil er sich für die Palästinenser eingesetzt hatte?
Verena schüttelte sich. Wie konnte Ari für eine solche Organisation arbeiten? Sie musste in Ruhe nachdenken. Auf keinen Fall durfte sie sich jetzt verwirren lassen. Dass sie jetzt hier saß, damit hatte Ari nichts zu tun. Schließlich waren es ihre Ermittlungen. Sie suchte den Auftraggeber des Mordes, und der …
„Verena?“, sagte Ari vorsichtig.
„Lass mich in Ruhe.“
„Komm, ich verstehe ja, dass du sauer bist …“
„Gar nichts verstehst du! Du sollst mich in Ruhe lassen!“
Er schwieg abrupt. Verena versuchte, das Nachdenken wieder aufzunehmen, aber es gelang ihr nicht. Dieses angeschnallt sein machte sie verrückt. Diese Nähe zu Ari ebenso. Es waren Sitzreihen mit vier Personen und sie saß ausgerechnet direkt am Fenster! Sie brauchte Luft. Sie musste sich bewegen.
„Hör zu, Verena“, begann Ari von Neuem. „Ich möchte dir etwas erklären.“ Und flüsternd fügte er hinzu: „Es ist wichtig. Für deine und meine Sicherheit.“
Verena sah ihn an. Es waren immer noch dieselben wunderbaren Augen. Sie konnte es kaum ertragen.
„Jetzt nicht“, sagte sie, schnallte sich ab und bat Ari sie durchzulassen, mit der Begründung, sie müsse mal auf die Toilette.
„Verena, bitte, hör mir doch kurz zu!“
Ohne Antwort schob sie sich entschlossen durch die Reihe. Sie saßen recht weit hinten, es waren nur fünf Reihen bis zur Toilette.
Dort angekommen, schaute sie sich im Spiegel an, schalt sich eine dumme Kuh, und dann rieb sie sich so lange die Schläfen mit kaltem Wasser ein, bis ihr Atem wieder normal ging. Anschließend schloss sie die Augen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.  Was ist jetzt wichtig?, fragte sie sich. Priorität hatte ihre Arbeit. Sie würde sofort nach der Landung eigene Wege gehen. Sie würde sich kategorisch von Ari verabschieden, würde Kontakt zur französischen Polizei aufnehmen und mit den Kollegen dort auf die Fährte von Konrad Bessi aufspringen. Das war ihre Arbeit, und sie würde sich von nichts und niemandem davon abbringen lassen. Mit ihrem Schmerz konnte sie sich beschäftigen, wenn die Sache vorbei war. Wenn sie Konrad Bessi festgenommen hatten. „Gut“, sagte sie. „So machen wir das. Um alles andere kümmern wir uns später.“
Derart sortiert und gefestigt, entriegelte sie die Toilettentür und betrat den Gang. Ihr Blick fiel auf die fünfte Reihe, es verlangte sie, Ari noch einmal ganz in Ruhe von hinten zu betrachten, bevor sie sich wieder auf ihren Platz setzte. Doch was war das? Ihre Augen suchten sein graues Haar.  Aber sie entdeckte weder seinen Kopf noch ihren freien Platz. Auf der rechten Seite war die fünfte Reihe komplett besetzt. Sie musste sich in der Reihe getäuscht haben. Irritiert suchte sie die anderen Reihen ab. Statt rechts, wie sie es erwartet hatte, war links in der fünften Reihe ein Platz am Fenster frei. Sollte sie so durcheinander sein, sich das falsch gemerkt zu haben? Aber dort saß Ari ebenfalls nicht, dort saß auf dem dritten Platz eine Frau.  Das konnte doch nicht sein! Verena bekam weiche Knie. Sie hielt sich instinktiv an der Armlehne des Platzes fest, neben dem sie stand.
„Ist Ihnen nicht gut?“ Vor ihr stand eine stämmige Stewardess. Vor Verenas Augen tanzten helle Kreise. „Ich bringe Sie zu Ihrem Platz“, sagte die Stewardess, und fasste Verena mit festem Griff am Arm.
„Aber“, stammelte Verena. „Aber mein Platz ist nicht mehr da!“
Die Stewardess lächelte. „Aber natürlich, gute Frau. Dort vorn, in der fünften Reihe links, dort haben Sie doch gesessen. Neben der blonden Frau. Keine Sorge, das wird schon wieder. Sie fliegen nicht oft, oder?“


Freitag, 27. Januar 2012

14. Kapitel: Das silberne Kettchen

Es war ein wunderschöner Morgen. Verena saß im Auto und fühlte sich trotz Stau nicht gestresst. Sie hatte mit Ari zusammen gefrühstückt und den Tag langsam angehen lassen. Gemeinsam hatten sie beschlossen, dass Verena auf’s Revier fahren sollte, um Hans Müller zu verhören und sich nach dem Verhör bei Ari meldete.
Das Verhör hatte Verena in den letzten zwei Tagen immer wieder verschieben müssen. Zuerst hatte sich plötzlich ein Anwalt eingeschaltet und den Fall Hans Müller übernommen. Er klagte wegen Verfahrensfehlern bei der Festnahme und hielt das geplante Verhör damit auf. Als das Kommissariat beweisen konnte, dass es keine Verfahrensfehler gab, fand der Anwalt keinen Termin. Nun endlich, an diesem Morgen, sollte es im Beisein des Anwalts und ihres Kollegen Haase stattfinden.
Verena blickte auf die Zigaretten in der Konsole und hatte plötzlich das Bedürfnis, sie zu entsorgen, das Auto zu reinigen, ihr Leben neu anzufangen. Ihr schossen Bilder der vergangenen Nacht durch den Kopf, ein Film lief ab, bis er plötzlich stockte.
Da gab es eine winzige Kleinigkeit, der sie vorher keine Beachtung geschenkt hatte, die ihr aber in diesem Moment auffiel. Und diese Kleinigkeit fiel Verena auch nur auf, weil sie spürte, dass Ari etwas verbarg und sie zumindest im Unterbewußtsein angefangen hatte, nach einem Geheimnis, nach einer Lüge, zu suchen.
Als sie ins Bad ging, hing Ari’s Jacke mit dem Futter nach außen gekehrt, über einen ihrer Stühle. Und aus der Innentasche schaute ein silbernes Kettchen heraus. Es war die Art von Kettchen, an der manchmal ein Ausweis befestigt war. Verena kannte die Art der Ausweisidentifikation von Fahrzeugkontrolleuren oder aber … und bei dem letzten Gedanken hielt sie den Atem an. Nein, das war unmöglich! Das hätte sie doch früher merken müssen… Wenn das stimmte, hätte er sich doch schon längst zu erkennen gegeben! Sie wollte den Gedanken nicht aufkommen lassen, versuchte, ihn zu verdrängen. Er durfte einfach nicht sein, denn er gefährdete alles.
Verena fragte sich, wo ihr Mißtrauen herkam. War es beruflich bedingt? War es der Lebenserfahrung verschuldet? War es eine Schutzfunktion? Eben noch schien sie mit der Welt völlig im Reinen zu sein. Warum machte sie sich dieses Gefühl schon nach einer halben Stunde kaputt? Sie wollte sich ihr Glücksgefühl jetzt nicht vermiesen lassen. Mit Ari war alles in Ordnung! An dem Kettchen war wahrscheinlich nur ein Schlüssel oder eine Uhr befestigt.

Auf dem Revier angekommen, suchte sie zunächst nach Ralf. Sie hatte das dringende Bedürfnis, mit der Reinigung in ihrem Leben auf der Stelle anzufangen.
„Was gibt’s?“, fragte Ralf mürrisch. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass etwas Unangenehmes auf ihn zukam.
„Hör’ zu, Ralf, ich habe zwar kein Interesse an einer Beziehung mit dir, schätze dich aber als Kollegen sehr. Und ich bin dankbar, dass du mir von der Festnahme Hans Müllers und von deinen Recherchen über Ari Kelch erzählt hast. Aber ich will keine Esseneinladungen und keine Annäherungsversuche mehr. Ist das klar?“
So, jetzt war es raus. Klar und deutlich.
„Danke für deine Direktheit.“, antwortete Ralf kleinlaut. Es war das erste Mal, dass Verena erlebte, dass Ralf nicht wusste, was er erwidern sollte. Schließlich wandte er sich ab und sagte:
„Ich habe zu tun, wenn du mich entschuldigst. Aber du machst einen Fehler. Du wirst schon sehen!“
Dann zog er beleidigt fort.
‚Das wird jetzt eine Weile dauern, bis er mir mal wieder hilft‘, dachte Verena und seufzte.

Hans Müller machte einen reglosen Eindruck. Er saß an dem Tisch im Verhörzimmer und verzog keine Miene. Verena und ihr Kollege Haase, der an diesem Morgen mal wieder für Dennis einsprang, saßen ihm gegenüber und warteten auf den Anwalt.
Verena lehnte sich vor und überprüfte, ob das Aufnahmegerät ordentlich angeschlossen war. Sie drückte auf den Aufnahmeknopf, schaltete ihn aus, an, aus, an, aus...
„Sie machen sich die Mühe umsonst.“, sagte Hans Müller plötzlich.
„Warum?“ fragte Verena und ergriff plötzlich das Wort, obwohl sie wußte, dass sie eigentlich bis zum Eintreffen des Anwaltes warten sollte.
„Die Beweise sind eindeutig. Frau Zöllner hat bezeugt, dass  Sie am 22. September im Hotel Adina waren. Sie sah, wie Sie das Hotel betraten und wie Sie sich mit dem Opfer Randolf Bock auf dem Balkon prügelten.“
„Frau Zöllner kann gar nichts bezeugen. Die ist tot.“
„Das mag sein, aber sie hat uns eine schriftliche Aussage und ein Phantombild hinterlassen.“
„Das wird nicht viel nützen.“
„Das Phantombild allein nicht, aber wie wäre es hiermit?“
Verena legte die Überreste eine Patrone, die in einer Tüte eingeschweißt waren, auf den Tisch.
„Das sind die Überreste der Patrone, die Frau Zöllner getötet hat. Eine Patrone der Marke Kimber 45.
„Und das,“ dabei legte sie einen Revolver, ebenfalls in Plastik verhüllt, auf den Tisch, „ist die dazugehörige Waffe, die in Ihrem Besitz aufgefunden wurde.“
Dann griff sie noch einmal in ihre Tasche und holte eine  folienbeschützte Quittung heraus.
„Und das ist der Durchschlag der Quittung, die Ihnen der Verkäufer Iwan Setschko bei Frankonia für die Waffe ausgestellt hat.“
„Mag sein, dass Sie auf der Waffe keine Fingerabdrücke hinterlassen haben, aber wir brauchen nur noch die Ergebnisse der DNA-Untersuchung abzuwarten. Ihre Speichelprobe wird derzeit gegen alle fremdartigen Substanzen an den Opfern, sowohl Randolf Bock als auch Magdalena Zöllner, überprüft. Ich bin sicher, wir werden fündig, Sie nicht?“
„Wir werden sehen.“
„Was hatten Sie eigentlich für ein Motiv? Frau Zöllner ist mir klar. Die hat sie gesehen. Aber Randolf Bock? Was hat der Ihnen getan?“
„Gar nichts. Ich wurde beauftragt, ihn umzubringen.“, erwiderte Hans Müller ruhig, fast beiläufig.
Verena und Kollege Haase sahen sich erstaunt an.
„Wenn Sie uns sagen, wer Sie beauftragt hat, Randolf Bock umzubringen, könnten wir uns eventuell auf eine Strafmilderung einigen, natürlich nicht für den Mord an Frau Zöllner, aber an dem von Randolf Bock. Vielleicht haben Sie dadurch die Chance, einer lebenslänglichen Strafe zu entgehen.“, schlug Verena vor.
„Konrad Bessi.“, gab Hans Müller bekannt. „Er hat mich beauftragt.“
In diesem Moment stürmte der Anwalt herein.
„Sie verhören meinen Mandanten ohne meine Anwesenheit?“, fragte dieser forsch.
„Ganz recht. Und hier haben wir sein Geständnis.“ Dabei nahm Verena das Aufnahmegerät und drückte auf den Aufnahmeknopf. Wie sich herausstellte, schaltete sie es dabei aus. Es war die ganze Zeit mitgelaufen.

Verena rief einen Beamten in das Verhörzimmer herein und lief Hans Müller festnehmen. Dann wimmelte sie den entsetzten Anwalt ab und ging zu Kollege Haase.
„Hören Sie, bitte finden Sie für mich heraus, wie man sich formal an die argentinische Polizei um Unterstützung wendet. Die Kollegen in Argentinien sollen Konrad Bessi festnehmen und verhören.“
„Mach‘ ich“, antwortete Haase.
Verena stellte das Aufnahmegerät als Beweisstück sicher und wollte gerade Ari anrufen, als Haase auch schon zurückkam.
„Konrad Bessi wurde in Argentinien als vermißt gemeldet.“, erzählte er. „Interpol ist bereits informiert. Er ist mit dem Bild nach Tarascon in Südfrankreich geflogen, um es dort an einen Käufer zu bringen.“
„Ahh. Und jetzt?“, fragte Verena, zu sich selbst gewandt.
Haase zuckte mit den Schultern.
„Ich kümmere mich darum.“, sagte Verena, suchte sich eine ruhige Ecke und rief Ari an.
„Ari, Hans Müller hat gestanden und Konrad Bessi als seinen Auftraggeber benannt. Konrad Bessi ist allerdings nicht in Argentinien. Er ist mit dem Van-Gogh-Bild nach Tarascon gereist.“ Verena sprudelte die Neuigkeiten geradezu heraus.
„Das wußte ich schon, aber nun haben wir die Bestätigung dafür. Sehr gut.“, antwortete Ari ruhig. Dennoch erschien es Verena, als ob er in Bewegung war.
„Was machst du gerade?“, fragte sie.
„Packen.“
„Willst du weg?“
„Ja, ich muss nach Tarascon.“, erwiderte Ari.
„Ich komme mit.“
„Nein,...“ Ari wollte widersprechen.
„Kommt gar nicht in Frage. Du hast mir die ganze Zeit geholfen. Jetzt ziehen wir die Sache bis zum Ende gemeinsam durch. Ich komme mit.“
„Dann treffen wir uns in zwei Stunden am Flughafen Tegel.“
„In Ordnung.“

Verena hetzte sich ab, um es rechtzeitig zum Flughafen zu schaffen. Sie raste nach Hause und packte ein paar Sachen in einen kleinen Koffer. Derweil buchte Ari ihren Flug.
Als sie mit dem Taxi in Tegel ankam, wartete Ari bereits am Abflugsteig auf sie.
„Du hast die Reise schon vorbereitet bevor ich dich anrief, nicht wahr?“, fragte sie.
Ari ignorierte ihre Frage und lächelte.
„Sag mir, was los ist!“, forderte sie. „Irgend etwas stimmt nicht.“
„Es ist alles in bester Ordnung.“, beschwichtigte Ari sie.
Sie betraten das Flugzeug und setzten sich auf ihre Plätze.
Verena griff in die Öffnung seiner Jacke und zog an dem silbernen Kettchen in seiner Innentasche.
„Was trägst Du da?“
Ari stoppte ihre Handbewegung, nahm ihre Hand und hielt sie fest. Er hielt sie solange fest, bis das Flugzeug gestartet war und Berlin unter Wolken verschwand.
„Hör zu,“ sagte er. „Ich kann es nur einmal sagen. Ich arbeite für den Mossad. Und du hast recht. An dem Kettchen hängt mein Ausweis.“
„Für den israelischen Geheimdienst?“, erwiderte Verena entsetzt.
„Ja.“
Verena stand der Mund offen.
„Die Sache mit der Objektivkappe, dass du meine Fingerabdrücke darauf finden würdest, war geplant. Ich hatte den Auftrag, mich in deine Ermittlungen einzuschalten.“
„Dann war ALLES nur ein Auftrag?“
„Ja.“


Donnerstag, 26. Januar 2012

13. Kapitel: Die Milonga

Ein beredtes Schweigen entstand. Sekundenlang wagte keiner von Beiden etwas zu sagen. Verena wusste, dass Ari ihr jetzt nicht die ganze Wahrheit sagen würde, dass sie ihm noch Zeit geben musste. Andererseits beunruhigte sie, dass Konrad Bessi spurlos verschwunden war und sogar die argentinische Polizei nach ihm fahndete. Und auch dieser "Drache von Tarascon" - sollte es  diesen mysteriösen Menschen tatsächlich geben, wie Ari behauptete? Falls ja, dann könnte sich Konrad Bessi vielleicht unwissend in Gefahr gegeben haben. Sollte der Drache ihn etwa entführt haben? Blödsinn, Verena, sagte sie innerlich zu sich selbst. Das ist doch absolut an den Haaren herbeigezogen. Außerdem verschwinden jeden Tag Menschen, die zu feige sind, sich aufrichtig von ihren Lebenspartnern zu trennen. Die dann behaupten, Zigaretten holen zu wollen und auf Nimmerwiedersehen aus dem Leben ihrer zurückgelassenen Partner verschwinden. Vielleicht war dieser Bessi ja auch so ein Kaliber. A pro pos Zigaretten, es war wieder einmal an der Zeit, zu rauchen, dachte Verena. Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und kramte nach ihrem Feuerzeug. Verflixt, wo steckte denn nun wieder ihr Feuerzeug?
"Darf ich?", fragte Ari, während er ihr ohne eine Antwort abzuwarten Feuer gab.
Verena seufzte. Es brauchte nicht mehr lange und dieser Mann würde auch die letzten Mauern ihres Widerstandes zum Einstürzen bringen. Und was dann geschehen würde, darüber wagte sie gar nicht erst nachzudenken.
"Danke", sagte sie und bemühte sich um einen besonders sachlichen, knappen Tonfall in der Stimme. Doch wahrscheinlich hatte er sie längst durchschaut.
"Haben Sie eingentlich schon einmal Tango getanzt?", fragte er sie.
"Tango? Ich? Nein, ich kann überhaupt nicht tanzen", wehrte Verena ab.
"Wie können Sie das wissen, wenn Sie es noch nie versucht haben?". Er grinste sie an.
"Außerdem führt beim Tango in der Regel der Mann, die Frau muss ihm nur folgen, dazu braucht sie gar keine begabte Tänzerin zu sein."
"Ach ja? Das klingt ja sehr nach Macho-Tum."
"Das mögen einige Menschen so sehen. Tatsächlich lieben gerade die Berliner, insbesonderne die Berlinerinnen den Tango mehr als allen Anderen."
"Ist das so?"
"In der Tat. Berlin ist nach Buenos Aires die weltweit zweite Tango-Hochburg. Und europaweit steht die deutsche Hauptstadt auf Platz Eins."
Verena war erstaunt. Gleichzeitig merkte sie, wie es wieder in ihr zu kribbeln begann.
"Kommen Sie", sagte Ari, "ich bezahle und dann fahren wir auf eine der schönsten Milongas  von ganz Berlin."
"Ich weiß nicht..."
"Na, kommen Sie schon. Wenn es Ihnen nach den ersten drei Tänzen dort nicht gefällt, fahre ich Sie sofort nach Hause oder in ihr Büro, wo immer Sie dann hinwollen?"
"Drei Tänze?", fragte Verena irritiert. "Warum drei und nicht einer?"
"Seine Tanzpartnerin nach dem ersten Tango stehen zu lassen, gilt als unhöflich. Daher fühlen sich die Tangueros verpflichtet, mit jeder Tanzpartnerin drei Tänze zu tanzen."
"Meinetwegen,  ich versuche es. Aber ich werde Ihnen nichts versprechen. Und wenn es mir dort missfällt, gehe ich umgehend wieder. Sofort. Verstehen Sie?"
"Claro", erwiderte Ari und seine Augen funkelten vor Freude.

Eine halbe Stunde später parkten sie mitten in Wedding auf einem großen Hinterhof.
"Hier soll Tango getanzt werden?", fragte Verena ungläubig.
"Ja, ich habe schon gehört, dass Wedding nicht so einen guten Ruf hat. Auch der Tango war einst verrufen, bevor er salonfähig wurde", sagte Ari, während sie in einem alten Fabrikgebäude drei Etagen hochstiegen und sich plötzlich in einer großen Halle widerfanden, in dem Duzende von Tanzpaaren in grazilen Posen voll verhaltener Erotik miteinander tanzten. In der Mitte des Raumes stand ein alter Klavierflügel, und überall an den Fabrikfenstern standen brennende Kerzenleuchter, während aus den Lautsprechern die melancholischen Klänge eines Bandoneons ertönten.  Verena spürte, wie sie unwillkürlich in den Bann dieser ganz besonderen Atmosphäre gezogen wurde. Gleichzeitig fühlte sie sich ein wenig fehl am Platz. Während sie selbst Jeans und Blazer trug, waren alle anderen Frauen in schöne Kleider oder schwingende Röcke gekleidet. Andere Frauen wiederum trugen zart flatternde, seidige Haremshosen, die an der Seite über einen raffinierter Einschnitt verfügten, der bei jeder Tanzbewegung  kurze Einblicke auf die grazilen Oberschenkel der jeweiligen Tänzerin gewährten.
"Sollen wir", fragte Ari und zog sie sanft auf die Tanzfläche. Er umfasste sie zart, aber spürbar. Zunächst noch starrte Verena unsicher auf ihre Füsse, doch Ari ermahnte sie:
"Nicht nach unten schauen. Sehen Sie auf mein Schlüsselbein und spüren Sie meine Bewegungen."
Anfangs noch etwas verkrampft, aber mit jedem Schritt, mit jeder Bewegung, zu der sie Ari ganz ohne Worte verleitete, fügte sie sich besser in den Takt ein und wurde immer sicherer. Wie von Zauberhand geführt, folgte Verena Aris eleganten Bewegungen in völligem Gleichklang. Sie spürte, wie sie den Tango, vor allem aber Ari mit all ihren Sinnen aufsog. Wie sie seine Wärme spürte, wie sie seinen herb-holzigen Geruch in sich einsog,  wie sie seine Berührungen genoss.
"Was ist das für ein Tango?", fragte sie Ari und deutete auf das Pärchen neben ihnen, das die Köpfe und Oberkörper aneinander geschmiegt sehr eng miteinander tanzte.
"Das ist die innige Umarmung, sie nennt sich Tango de Salon."
Und als habe er ihre Sehnsucht geahnt, zog jetzt auch Ari sie ganz eng an sich und Verena fühlte, wie sie  miteinander verschmolzen. Zu ihrer eigenen Überraschung gelangt es ihnen, trotz der großen physischen Nähe weiterhin synchron miteinander zu tanzen.

Sie mussten sehr lange so innig umarmt miteinander getanzt haben, bis sie auf einmal bemerkten, dass sie nunmehr das letzte Tanzpaar auf dieser Milonga waren.
"Ich fürchte, irgendwann wollen die Besitzer des Tango-Lofts auch einmal schlafen gehen ", flüsterte Ari.
"Nein, Ari, lass mich nicht los, bleib diese Nacht einfach nur mit mir zusammen, bitte."
Ari sah Verena erst etwas überrascht, dann voller Wärme in die Augen.
"Natürlich", erwiderte er heiser. "Was könnte ich auch anderes tun?!"


Mittwoch, 25. Januar 2012

12. Kapitel: Blaue Augen

Der Kellner stellte die beiden Cappuccinos auf den Tisch. Es war wie verhext. Kaum war der Kellner mit fragendem Blick an ihren Tisch getreten, bestellten sie wie aus einem Mund dasselbe: Cappuccino. Sahen sich einen Moment überrascht an und lachten dann herzlich los.
Aber was hieß verhext? Inzwischen war Ari Kelch ja kein Verdächtiger mehr, sondern sozusagen ihr Kollege. Und vielleicht bald noch mehr.

Verena nippte leicht an dem Milchschaum, in vorsichtiger Erwartung des heißen Kaffees darunter. Anschließend leckte sie sich die Reste dezent von der Oberlippe. Als sie aufsah, bemerkte sie, wie Ari sie schmunzelnd beobachtete. Schmunzelnd und...

Ihr Handy klingelte. "Frau Kollegin, wo erwische ich sie denn jetzt gerade?" Verena spürte den Ärger in sich hochkochen. Vor einer Stunde war sie noch im Polizeipräsidium gewesen, da hätte Ralf jede Möglichkeit gehabt, sie an zu sprechen. Wieso jetzt? Das war verhext. Als ob er sie observierte. "Meine Sache. Was ist los?" Ari sah diskret in eine andere Richtung, wie, um ihr einen ungestörten Raum für das Telefonat zu überlassen.
"Bist Du alleine? Oder ist wieder dieser Kelch bei Dir?" Verena lehnte sich zurück, um ihren Körper zu entspannen. "Ich bin alleine, wieso?" Im Augenwinkel sah sie ein belustigtes Zucken um Aris Mund. "Weil ich da eine neue Information über meinen Nebenbuhler habe." In der Stimme des Spusis schwang eindeutig freudige Befriedigung mit, fast Triumph. Verenas Rücken verhärtete sich erneut. "Schieß los." sagte sie knapp und konnte nicht umhin, Ari dabei zu betrachten. "Also" begann Ralf geradezu genüsslich "dieser Ari Kelch ist kein unbeschriebenes Blatt. Er ist der Sohn von Sharon und Mosche Kelch, die von 1942 bis 45 im KZ Mauthausen Zwangsarbeit leisten mussten..." Verena spürte, wie ihre Haut kribbelte. "Okay, das macht ihn nicht zwangsläufig verdächtig, oder?" Ralf auf der anderen Seite räusperte sich ungehalten. "Das musst Du entscheiden. Ich gebe dir nur weiter, was meine Spurenrecherche so ergeben hat. Ich weiß zwar nicht, wie das zusammenhängen könnte, aber ein Zufall ist das nicht, oder?" Verena atmete tief ein. "Danke Ralf. Schönen Tag noch." Damit beendete sie das Gespräch.

Aris Blick kehrte zu ihr zurück. "Neuigkeiten?" fragte er sie. Verenas Magen drückte leicht.
Sie sah hoch in seine Augen. In diese klugen Augen mit dem zurückhaltenden Blick, der seine Sehnsucht nicht verbergen konnte. Glaubte sie. Aber verbargen sie etwas anderes vor ihr? Ein helles, strahlendes Blau. Ein arischer Typ, ging es ihr durch den Kopf und sie tadelte sich selbst sofort für dieses idiotische Wort. Ein arischer Typ aus jüdischer Familie.
Ein Typ voller Widersprüche.
Da klingelte erneut das Handy. Verena sah Ari fragend an. Er nickte freundlich. "Gehen Sie ruhig dran. Ich habe Zeit!"
Diesmal war es ein Ferngespräch, von der argentinischen Polizei in Bariloche. Ein Martin Fernandez wollte sie sprechen. "I do'nt speak spanish" wandte Verena ein. Das mache nichts, versicherte ihr die argentinische Kollegin in passablem Englisch. Herr Fernandez spreche fließend Deutsch.
Die Verbindung war schlecht. Verena beschloss, das Gespräch diesmal nicht am Tisch zu führen. Sie nickte Ari entschuldigend zu, der ihr mit gewohnt charmantem Lächeln aufmunternd zunickte.

Als Verena zurück an den Tisch kam, hatte sie einen Entschluss gefasst.
"Herr Kelch" begann sie, noch bevor sie auf dem Stuhl Platz genommen hatte, und sah Ari Kelch sehr direkt an. "Wir müssen reden."

Als sie ihn mit den Fragen, die sie in schneller Kombination der neuen Informationen versuchsweise formuliert hatte, konfrontierte, lächelte er immer noch. "Ja" sagte er langsam und ruhig "ja, das stimmt alles. Meinen Eltern hat "Der Maler auf dem Weg nach Tarascon" gehört und Georg Bessi hat meine Eltern in Mauthausen gequält. Von den Folgen haben sie sich niemals wieder richtig erholt. Später hat Bessi, gemeinsam mit einem weiteren Nazi-Schergen, das Bild gestohlen. Es stimmt auch, dass ich Konrad Bessi Zeit seines Lebens beobachtet habe und mich ihm als Detektiv angeboten habe. Ja, ich bin auf der Suche nach dem Drachen von Tarascon. Einem der letzten Überlebenden des Nazi-Regimes. Ich wusste, dass Bessi das Bild meiner Eltern hatte. Dieses Bild ist mir egal. Ich will es gar nicht haben. Aber ich hatte die Vermutung, dass Georg Bessis Freund noch lebte. Und dass er sich "Drache von Tarascon" nennt. Und ich wusste, dass der Drache früher oder später dieses Bild holen wollte. Und dabei wollte ich ihn schnappen."

Verena war eine erfahrene Ermittlerin. Aber dieses Gefühlswirrwar war ihr neu. Ari machte auf sie einen von Grund auf vertrauenerweckenden Eindruck. Sie erwischte sich bei dem Gedanken, dass sie ihm ihr Leben anvertrauen würde - etwas, worüber eine Polizistin immer wieder mal gezwungen war, nach zu denken.
Aber er hütete ein Geheimnis. Immer noch. Hinter diesen hellen Augen, die so transparent waren, dass man meinte, bis auf den Grund sehen zu können.

"Sie allein, als rächender Privatmann." Ari sah sie einen Moment schweigend an. "Genau." sagte er, und Verena wusste, dass er in diesem Moment log. Lügen musste.


Sonntag, 22. Januar 2012

11. Kapitel: Schatten der Vergangenheit

„Wer ich bin?“, fragte der Drache und lachte.
Konrad Bessi war unheimlich zumute.
„Kennen Sie die Legende vom Drachen von Tarascon?“, fragte der Drache wieder.
„Nein.“, erwiderte Konrad.
„Nun, ich will sie Ihnen erzählen. Der Drache von Tarascon, oder auch Tarasque genannt, ist der Legende nach ein Ungeheuer, das einst hier am Ufer der Rhône sein Unwesen trieb. Er verschlang Wanderer auf dem Weg in die Stadt, aber auch Bauern und Jungfrauen, bis die Jungfrau Martha ihn bezwang. Noch heute ist er ein Wahrzeichen der Stadt und in dessen Wappen abgebildet.
Ich nehme mir den Drachen zum Vorbild. Bildlich sozusagen. Ich verschlinge Bilder. Und welches Bild, wenn nicht „der Maler auf dem Weg nach Tarascon“ würde dieser Bildlichkeit größeren Ausdruck verleihen?“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Konrad, sichtlich verwirrt.
„So wie ich es gesagt habe. Ich werde Ihr Bild verschlingen, zu Deutsch: vernichten.“
„Sie bezahlen mir drei Millionen Dollar für ein Bild, das Sie vernichten wollen?
„Nein, nicht drei. Eine. Mehr als die Million, die Sie bereits von mir erhalten haben, bekommen Sie nicht. Und diese Million ist es mir wert.“
Konrad schaute ungläubig. So langsam entpuppte sich der Haken an der Geschichte.
„Mein lieber Konrad, Sie wissen doch um unsere Vergangenheit. Wer, wenn nicht Sie? Das Bild, das Sie mir gebracht haben, ist künstlerisch nichts wert. Es wurde vor 70 Jahren in einer Ausstellung entarteter Kunst gezeigt und hat diesen Status bis heute nicht verloren. Ich dachte Sie wüßten, dass das, was Sie da die ganze Zeit im Schlafzimmer zu hängen hatten, keine Kunst ist, sondern Dreck.“
„Ich finde, dass es das schönste Bild ist, das ich jemals sah.“, erwiderte Konrad geschockt.
„Ich hatte es so lange im Schlafzimmer hängen, weil ich es eigentlich nicht verkaufen wollte. Und ich will es mit Sicherheit an niemanden verkaufen, der es vernichten will.“
„Das ist Schade.“, antwortete der Drache. „Ich dachte, Sie und ich wären aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ich dachte, Sie würden die Ansichten Ihres Vaters teilen. Daher war ich auch willens, Ihnen wenigstens eine Million Entschädigung für das Bild zu bezahlen. Aus Respekt Ihrem Vater gegenüber. Aber nun sehe ich, dass Sie nichts mit ihm gemeinsam haben. Schade. Was mache ich jetzt mit Ihnen?“
Der Drache lief unschlüssig auf und ab.
Plötzlich nahm er seine Maske ab. Es erschien das Gesicht eines alten, ungefähr 90-jährigen Mannes. Ein dünnes Gesicht mit schlaffer Haut aber stahlblauen, unnachgiebigen  Augen. 
Konrad sah sich um. Der Rückweg war abgeschnitten. Das einzige Tor nach draußen verschlossen. Die Mauern waren dick.
Abschätzend richtete der Drache seinen Blick auf ihn.
„Schauen Sie sich doch einmal an, ängstlich, verweichlicht, verwöhnt. Sie haben keinen Schimmer von deutscher Kultur, deutscher Geschichte, deutschem Erbe. Sie sind ja nicht einmal ein richtiger Mann. Ihr Vater muss sich so für Sie geschämt haben!“
„Was wissen Sie schon von meinem Vater?“
„Ich weiß, dass er Männer wie Sie in einen Häftlingsanzug mit rosafarbenem Aufnäher steckte. Er war nämlich Lagerverwalter des KZ Mauthausen. Und ich weiß, dass er dafür reichlich mit Nazigold entlohnt wurde. All das Geld, das Sie verspielt und verfeiert haben, hatte er sich redlich verdient, so wie ich meines.“
„Wenn das stimmt, bin ich froh, das Geld los zu sein.“, sagte Konrad leise.
Der Drache lachte laut auf.
„Sie werden nicht nur Ihr Geld los sein, sondern auch Ihr Leben, wenn ich mit Ihnen fertig bin. Ihr Vater mag unfähig gewesen sein, Ihnen die Leviten zu lesen. Ich bin’s nicht. Aber zuerst werden Sie zuschauen, wie ich diese Bilder hier in die Flammen werfe. Nur auf Ihres habe ich noch gewartet. Das letzte in der Tarasconschen Sammlung. Das wird ein Fest! Eine Bilderverbrennung!“
Der Drache schnipste mit den Fingern, und zwei Bedienstete traten ein.
„Bringt ihn in den Keller!“, befahl er ihnen.
Konrad versuchte sich zu wehren, aber er hatte keine Chance. Die Männer packten ihn, untersuchten seine Taschen, nahmen ihm sein Handy ab und schleppten ihn aus der Bibliothek, in einen Gang, mehrere Treppen hinunter. Sie schlossen ein Gittertor auf und stießen ihn in einen alten Kerker. Dann verriegelten sie das Tor wieder und verschwanden.
Konrad stand im Dunkeln. Langsam ließ er sich nieder und verharrte für einige Minuten reglos. Er sass angespannt, mit angezogenen, umarmten Beinen. Als sich seine Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm der die kleinen Schatten krabbelnder Tiere wahr. Kakalaken.
„Oh Gott, Martin, bitte geh‘ zur Polizei,“ murmelte er nur.

Martin machte sich in der Tat Sorgen.  
Er versuchte mehrmals Konrad anzurufen und schickte mehrere SMS. Keine Antwort. Etwas stimmte nicht. Da war er sich sicher. Bereits am zweiten Tag nach Konrad’s Abreise hatte er ein schlechtes Gefühl und überlegte, ob er wirklich noch einen Tag abwarten sollte oder nicht.
Schließlich ging er zur Polizei.
Auf der Polizeiwache wurde er an eine junge Beamtin verwiesen.
„Sie möchten eine Vermißtenanzeige aufgeben?“, fragte ihn die Beamtin.
„Ja. Die Sache ist etwas kompliziert. Ich möchte meinen Freund Konrad Bessi als vermißt melden. Aber ich weiß, dass er nach Südfrankreich geflogen ist, um ein wertvolles Bild von Vincent van Gogh zu verkaufen. Illegal zu verkaufen. Es heißt ‚Maler auf dem Weg nach Tarascon‘. Er hat das Bild bei sich. Dass er sich nicht meldet und noch nicht wieder zurück ist, läßt darauf schließen, dass ihm etwas passiert ist.
„Wissen Sie, wo in Südfrankreich er den Käufer besuchen wollte?“
„Tarascon.“
Die junge Beamtin überlegte. Dann sagte sie:
„Ich denke, wir werden hier noch andere Behörden einschalten müssen.“
Sie stand auf und verständigte einen weiteren Kollegen, der interessiert zu Martin herüber blickte.
Dann griff er zum nächsten Telefonhörer.

Konrad musste zwei Tage in seiner Zelle ausharren. Ihm wurden Wasser und Nahrung gereicht, aber er durfte nicht ans Licht.
Schließlich besuchte der Drache ihn. Er brachte eine Öllampe mit, die er auf dem Boden vor Konrads Zelle abstellte. In dem schummrigen Licht, erklärte ihm der alte Mann, der wieder ganz in Weiß gekleidet war:
„Sie dürfen jetzt duschen, Ihre Sachen wechseln und an die frische Luft. Ich habe im Garten, am Ufer der Rhône, alles vorbereitet. In zwei Stunden wird das große Lagerfeuer beginnen.“

Konrad wurde, überwacht von den beiden Handlangern des Drachen, in ein Zimmer im dritten Stockwerk geführt, wo er sich duschen und umziehen durfte. Als er aus dem Fenster schaute, traute er seinen Augen nicht. Dort unten im Garten, am Flussufer, war ein großes Gebilde aus Strohballen und Kleinholz in Form eines Hakenkreuzes aufgebaut. An den vier Enden stand jeweils ein Bild auf einer Staffelei. Die vier Bilder standen dort wie auf Scheiterhaufen. Und ganz in der Mitte stand ein Pfahl. Konrad durchzuckte ein Angststoß. Der Drache wollte ihn doch nicht allen Ernstes mit den Bildern verbrennen?