Freitag, 27. Januar 2012

14. Kapitel: Das silberne Kettchen

Es war ein wunderschöner Morgen. Verena saß im Auto und fühlte sich trotz Stau nicht gestresst. Sie hatte mit Ari zusammen gefrühstückt und den Tag langsam angehen lassen. Gemeinsam hatten sie beschlossen, dass Verena auf’s Revier fahren sollte, um Hans Müller zu verhören und sich nach dem Verhör bei Ari meldete.
Das Verhör hatte Verena in den letzten zwei Tagen immer wieder verschieben müssen. Zuerst hatte sich plötzlich ein Anwalt eingeschaltet und den Fall Hans Müller übernommen. Er klagte wegen Verfahrensfehlern bei der Festnahme und hielt das geplante Verhör damit auf. Als das Kommissariat beweisen konnte, dass es keine Verfahrensfehler gab, fand der Anwalt keinen Termin. Nun endlich, an diesem Morgen, sollte es im Beisein des Anwalts und ihres Kollegen Haase stattfinden.
Verena blickte auf die Zigaretten in der Konsole und hatte plötzlich das Bedürfnis, sie zu entsorgen, das Auto zu reinigen, ihr Leben neu anzufangen. Ihr schossen Bilder der vergangenen Nacht durch den Kopf, ein Film lief ab, bis er plötzlich stockte.
Da gab es eine winzige Kleinigkeit, der sie vorher keine Beachtung geschenkt hatte, die ihr aber in diesem Moment auffiel. Und diese Kleinigkeit fiel Verena auch nur auf, weil sie spürte, dass Ari etwas verbarg und sie zumindest im Unterbewußtsein angefangen hatte, nach einem Geheimnis, nach einer Lüge, zu suchen.
Als sie ins Bad ging, hing Ari’s Jacke mit dem Futter nach außen gekehrt, über einen ihrer Stühle. Und aus der Innentasche schaute ein silbernes Kettchen heraus. Es war die Art von Kettchen, an der manchmal ein Ausweis befestigt war. Verena kannte die Art der Ausweisidentifikation von Fahrzeugkontrolleuren oder aber … und bei dem letzten Gedanken hielt sie den Atem an. Nein, das war unmöglich! Das hätte sie doch früher merken müssen… Wenn das stimmte, hätte er sich doch schon längst zu erkennen gegeben! Sie wollte den Gedanken nicht aufkommen lassen, versuchte, ihn zu verdrängen. Er durfte einfach nicht sein, denn er gefährdete alles.
Verena fragte sich, wo ihr Mißtrauen herkam. War es beruflich bedingt? War es der Lebenserfahrung verschuldet? War es eine Schutzfunktion? Eben noch schien sie mit der Welt völlig im Reinen zu sein. Warum machte sie sich dieses Gefühl schon nach einer halben Stunde kaputt? Sie wollte sich ihr Glücksgefühl jetzt nicht vermiesen lassen. Mit Ari war alles in Ordnung! An dem Kettchen war wahrscheinlich nur ein Schlüssel oder eine Uhr befestigt.

Auf dem Revier angekommen, suchte sie zunächst nach Ralf. Sie hatte das dringende Bedürfnis, mit der Reinigung in ihrem Leben auf der Stelle anzufangen.
„Was gibt’s?“, fragte Ralf mürrisch. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass etwas Unangenehmes auf ihn zukam.
„Hör’ zu, Ralf, ich habe zwar kein Interesse an einer Beziehung mit dir, schätze dich aber als Kollegen sehr. Und ich bin dankbar, dass du mir von der Festnahme Hans Müllers und von deinen Recherchen über Ari Kelch erzählt hast. Aber ich will keine Esseneinladungen und keine Annäherungsversuche mehr. Ist das klar?“
So, jetzt war es raus. Klar und deutlich.
„Danke für deine Direktheit.“, antwortete Ralf kleinlaut. Es war das erste Mal, dass Verena erlebte, dass Ralf nicht wusste, was er erwidern sollte. Schließlich wandte er sich ab und sagte:
„Ich habe zu tun, wenn du mich entschuldigst. Aber du machst einen Fehler. Du wirst schon sehen!“
Dann zog er beleidigt fort.
‚Das wird jetzt eine Weile dauern, bis er mir mal wieder hilft‘, dachte Verena und seufzte.

Hans Müller machte einen reglosen Eindruck. Er saß an dem Tisch im Verhörzimmer und verzog keine Miene. Verena und ihr Kollege Haase, der an diesem Morgen mal wieder für Dennis einsprang, saßen ihm gegenüber und warteten auf den Anwalt.
Verena lehnte sich vor und überprüfte, ob das Aufnahmegerät ordentlich angeschlossen war. Sie drückte auf den Aufnahmeknopf, schaltete ihn aus, an, aus, an, aus...
„Sie machen sich die Mühe umsonst.“, sagte Hans Müller plötzlich.
„Warum?“ fragte Verena und ergriff plötzlich das Wort, obwohl sie wußte, dass sie eigentlich bis zum Eintreffen des Anwaltes warten sollte.
„Die Beweise sind eindeutig. Frau Zöllner hat bezeugt, dass  Sie am 22. September im Hotel Adina waren. Sie sah, wie Sie das Hotel betraten und wie Sie sich mit dem Opfer Randolf Bock auf dem Balkon prügelten.“
„Frau Zöllner kann gar nichts bezeugen. Die ist tot.“
„Das mag sein, aber sie hat uns eine schriftliche Aussage und ein Phantombild hinterlassen.“
„Das wird nicht viel nützen.“
„Das Phantombild allein nicht, aber wie wäre es hiermit?“
Verena legte die Überreste eine Patrone, die in einer Tüte eingeschweißt waren, auf den Tisch.
„Das sind die Überreste der Patrone, die Frau Zöllner getötet hat. Eine Patrone der Marke Kimber 45.
„Und das,“ dabei legte sie einen Revolver, ebenfalls in Plastik verhüllt, auf den Tisch, „ist die dazugehörige Waffe, die in Ihrem Besitz aufgefunden wurde.“
Dann griff sie noch einmal in ihre Tasche und holte eine  folienbeschützte Quittung heraus.
„Und das ist der Durchschlag der Quittung, die Ihnen der Verkäufer Iwan Setschko bei Frankonia für die Waffe ausgestellt hat.“
„Mag sein, dass Sie auf der Waffe keine Fingerabdrücke hinterlassen haben, aber wir brauchen nur noch die Ergebnisse der DNA-Untersuchung abzuwarten. Ihre Speichelprobe wird derzeit gegen alle fremdartigen Substanzen an den Opfern, sowohl Randolf Bock als auch Magdalena Zöllner, überprüft. Ich bin sicher, wir werden fündig, Sie nicht?“
„Wir werden sehen.“
„Was hatten Sie eigentlich für ein Motiv? Frau Zöllner ist mir klar. Die hat sie gesehen. Aber Randolf Bock? Was hat der Ihnen getan?“
„Gar nichts. Ich wurde beauftragt, ihn umzubringen.“, erwiderte Hans Müller ruhig, fast beiläufig.
Verena und Kollege Haase sahen sich erstaunt an.
„Wenn Sie uns sagen, wer Sie beauftragt hat, Randolf Bock umzubringen, könnten wir uns eventuell auf eine Strafmilderung einigen, natürlich nicht für den Mord an Frau Zöllner, aber an dem von Randolf Bock. Vielleicht haben Sie dadurch die Chance, einer lebenslänglichen Strafe zu entgehen.“, schlug Verena vor.
„Konrad Bessi.“, gab Hans Müller bekannt. „Er hat mich beauftragt.“
In diesem Moment stürmte der Anwalt herein.
„Sie verhören meinen Mandanten ohne meine Anwesenheit?“, fragte dieser forsch.
„Ganz recht. Und hier haben wir sein Geständnis.“ Dabei nahm Verena das Aufnahmegerät und drückte auf den Aufnahmeknopf. Wie sich herausstellte, schaltete sie es dabei aus. Es war die ganze Zeit mitgelaufen.

Verena rief einen Beamten in das Verhörzimmer herein und lief Hans Müller festnehmen. Dann wimmelte sie den entsetzten Anwalt ab und ging zu Kollege Haase.
„Hören Sie, bitte finden Sie für mich heraus, wie man sich formal an die argentinische Polizei um Unterstützung wendet. Die Kollegen in Argentinien sollen Konrad Bessi festnehmen und verhören.“
„Mach‘ ich“, antwortete Haase.
Verena stellte das Aufnahmegerät als Beweisstück sicher und wollte gerade Ari anrufen, als Haase auch schon zurückkam.
„Konrad Bessi wurde in Argentinien als vermißt gemeldet.“, erzählte er. „Interpol ist bereits informiert. Er ist mit dem Bild nach Tarascon in Südfrankreich geflogen, um es dort an einen Käufer zu bringen.“
„Ahh. Und jetzt?“, fragte Verena, zu sich selbst gewandt.
Haase zuckte mit den Schultern.
„Ich kümmere mich darum.“, sagte Verena, suchte sich eine ruhige Ecke und rief Ari an.
„Ari, Hans Müller hat gestanden und Konrad Bessi als seinen Auftraggeber benannt. Konrad Bessi ist allerdings nicht in Argentinien. Er ist mit dem Van-Gogh-Bild nach Tarascon gereist.“ Verena sprudelte die Neuigkeiten geradezu heraus.
„Das wußte ich schon, aber nun haben wir die Bestätigung dafür. Sehr gut.“, antwortete Ari ruhig. Dennoch erschien es Verena, als ob er in Bewegung war.
„Was machst du gerade?“, fragte sie.
„Packen.“
„Willst du weg?“
„Ja, ich muss nach Tarascon.“, erwiderte Ari.
„Ich komme mit.“
„Nein,...“ Ari wollte widersprechen.
„Kommt gar nicht in Frage. Du hast mir die ganze Zeit geholfen. Jetzt ziehen wir die Sache bis zum Ende gemeinsam durch. Ich komme mit.“
„Dann treffen wir uns in zwei Stunden am Flughafen Tegel.“
„In Ordnung.“

Verena hetzte sich ab, um es rechtzeitig zum Flughafen zu schaffen. Sie raste nach Hause und packte ein paar Sachen in einen kleinen Koffer. Derweil buchte Ari ihren Flug.
Als sie mit dem Taxi in Tegel ankam, wartete Ari bereits am Abflugsteig auf sie.
„Du hast die Reise schon vorbereitet bevor ich dich anrief, nicht wahr?“, fragte sie.
Ari ignorierte ihre Frage und lächelte.
„Sag mir, was los ist!“, forderte sie. „Irgend etwas stimmt nicht.“
„Es ist alles in bester Ordnung.“, beschwichtigte Ari sie.
Sie betraten das Flugzeug und setzten sich auf ihre Plätze.
Verena griff in die Öffnung seiner Jacke und zog an dem silbernen Kettchen in seiner Innentasche.
„Was trägst Du da?“
Ari stoppte ihre Handbewegung, nahm ihre Hand und hielt sie fest. Er hielt sie solange fest, bis das Flugzeug gestartet war und Berlin unter Wolken verschwand.
„Hör zu,“ sagte er. „Ich kann es nur einmal sagen. Ich arbeite für den Mossad. Und du hast recht. An dem Kettchen hängt mein Ausweis.“
„Für den israelischen Geheimdienst?“, erwiderte Verena entsetzt.
„Ja.“
Verena stand der Mund offen.
„Die Sache mit der Objektivkappe, dass du meine Fingerabdrücke darauf finden würdest, war geplant. Ich hatte den Auftrag, mich in deine Ermittlungen einzuschalten.“
„Dann war ALLES nur ein Auftrag?“
„Ja.“


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen