Samstag, 28. Januar 2012

15. Kapitel: Ari verschwindet


Verena verschlug es die Sprache. Ein Wust unterschiedlichster Gefühle kochte in ihr hoch. Verwirrung, Scham, Entsetzen, Wut. Sie biss die Zähne zusammen, bis ihr Kiefer schmerzte. Am liebsten hätte sie Ari ihren Ellenbogen in den Magen gestoßen, ihn geschlagen und angeschrien. Stattdessen saß sie angeschnallt neben ihm und rührte sich nicht. Benutzt, hämmerte es in ihrem Kopf, benutzt, er hat mich benutzt. Er liebt mich überhaupt nicht! Und ich Schaf habe mich darauf eingelassen, habe diese Nacht zugelassen, statt meine Bedenken ernst zu nehmen! Gleich, als das mit seinen Eltern raus war, hätte ich weiterfragen müssen. Wie unprofessionell bin ich eigentlich! War es etwa auch ein Auftrag, dass er mit mir schläft?!
Sie versuchte, sich zusammenzureißen. Langsam zu atmen. Ihr Gefühls-  und Gedankenknäuel zu entwirren. Der Mossad, was wusste sie darüber? Er war vergleichbar CIA und BND, aber sie hatte mal gehört, dass die Befugnisse dieses Geheimdienstes wesentlich weiter reichten. Sie wusste zu wenig. Vor langer Zeit hatte sie mal etwas darüber gelesen. Jetzt fiel ihr ein, dass es der Mossad gewesen war, der 1960  den Kriegsverbrecher Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt und nach Israel entführt hatte. Wo er zum Tode verurteilt worden war. Sie arbeiteten oft mit Entführungen und Bomben. Hatten sie nicht auch in den siebzieger Jahren einen arabischen Schriftsteller getötet, weil er sich für die Palästinenser eingesetzt hatte?
Verena schüttelte sich. Wie konnte Ari für eine solche Organisation arbeiten? Sie musste in Ruhe nachdenken. Auf keinen Fall durfte sie sich jetzt verwirren lassen. Dass sie jetzt hier saß, damit hatte Ari nichts zu tun. Schließlich waren es ihre Ermittlungen. Sie suchte den Auftraggeber des Mordes, und der …
„Verena?“, sagte Ari vorsichtig.
„Lass mich in Ruhe.“
„Komm, ich verstehe ja, dass du sauer bist …“
„Gar nichts verstehst du! Du sollst mich in Ruhe lassen!“
Er schwieg abrupt. Verena versuchte, das Nachdenken wieder aufzunehmen, aber es gelang ihr nicht. Dieses angeschnallt sein machte sie verrückt. Diese Nähe zu Ari ebenso. Es waren Sitzreihen mit vier Personen und sie saß ausgerechnet direkt am Fenster! Sie brauchte Luft. Sie musste sich bewegen.
„Hör zu, Verena“, begann Ari von Neuem. „Ich möchte dir etwas erklären.“ Und flüsternd fügte er hinzu: „Es ist wichtig. Für deine und meine Sicherheit.“
Verena sah ihn an. Es waren immer noch dieselben wunderbaren Augen. Sie konnte es kaum ertragen.
„Jetzt nicht“, sagte sie, schnallte sich ab und bat Ari sie durchzulassen, mit der Begründung, sie müsse mal auf die Toilette.
„Verena, bitte, hör mir doch kurz zu!“
Ohne Antwort schob sie sich entschlossen durch die Reihe. Sie saßen recht weit hinten, es waren nur fünf Reihen bis zur Toilette.
Dort angekommen, schaute sie sich im Spiegel an, schalt sich eine dumme Kuh, und dann rieb sie sich so lange die Schläfen mit kaltem Wasser ein, bis ihr Atem wieder normal ging. Anschließend schloss sie die Augen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.  Was ist jetzt wichtig?, fragte sie sich. Priorität hatte ihre Arbeit. Sie würde sofort nach der Landung eigene Wege gehen. Sie würde sich kategorisch von Ari verabschieden, würde Kontakt zur französischen Polizei aufnehmen und mit den Kollegen dort auf die Fährte von Konrad Bessi aufspringen. Das war ihre Arbeit, und sie würde sich von nichts und niemandem davon abbringen lassen. Mit ihrem Schmerz konnte sie sich beschäftigen, wenn die Sache vorbei war. Wenn sie Konrad Bessi festgenommen hatten. „Gut“, sagte sie. „So machen wir das. Um alles andere kümmern wir uns später.“
Derart sortiert und gefestigt, entriegelte sie die Toilettentür und betrat den Gang. Ihr Blick fiel auf die fünfte Reihe, es verlangte sie, Ari noch einmal ganz in Ruhe von hinten zu betrachten, bevor sie sich wieder auf ihren Platz setzte. Doch was war das? Ihre Augen suchten sein graues Haar.  Aber sie entdeckte weder seinen Kopf noch ihren freien Platz. Auf der rechten Seite war die fünfte Reihe komplett besetzt. Sie musste sich in der Reihe getäuscht haben. Irritiert suchte sie die anderen Reihen ab. Statt rechts, wie sie es erwartet hatte, war links in der fünften Reihe ein Platz am Fenster frei. Sollte sie so durcheinander sein, sich das falsch gemerkt zu haben? Aber dort saß Ari ebenfalls nicht, dort saß auf dem dritten Platz eine Frau.  Das konnte doch nicht sein! Verena bekam weiche Knie. Sie hielt sich instinktiv an der Armlehne des Platzes fest, neben dem sie stand.
„Ist Ihnen nicht gut?“ Vor ihr stand eine stämmige Stewardess. Vor Verenas Augen tanzten helle Kreise. „Ich bringe Sie zu Ihrem Platz“, sagte die Stewardess, und fasste Verena mit festem Griff am Arm.
„Aber“, stammelte Verena. „Aber mein Platz ist nicht mehr da!“
Die Stewardess lächelte. „Aber natürlich, gute Frau. Dort vorn, in der fünften Reihe links, dort haben Sie doch gesessen. Neben der blonden Frau. Keine Sorge, das wird schon wieder. Sie fliegen nicht oft, oder?“


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