Donnerstag, 22. Dezember 2011

Kapitel 8: Malerische Delikatessen

Als sie das Restaurant betrat sah sie ihn sofort. Er stand auf, ging auf sie zu, half ihr elegant aus dem Mantel, zog den Stuhl für sie zurück, blieb wie eine Schutzmauer vor der allzu lauten Welt hinter ihr stehen, bis sie ganz in Ruhe auf ihrem Stuhl Platz gefunden hatte. Für einen Moment wünsche sie sich, er würde dort einfach stehen bleiben, seine Hände auf ihre Schultern legen und die Zeit anhalten.
Sie öffnete die Augen erst als er ihr gegenüber Platz genommen und ihr ein Glas Wasser eingeschenkt hatte.
„Ich war so frei, schon Wasser und auch eine Flasche trockenen spanischen Rotwein zu bestellen.“
„Perfekt“, sagte sie und genoss dieses Gefühl umsorgt zu werden. Sie sah ihm tief in die Augen, die von einem inneren südamerikanischen Feuer berichteten. „Danke, dass Sie hier bleiben und mir helfen wollen.“
„Ach wissen Sie, wenn man so plötzlich von einem heimlichen Auge zu einem Mordverdächtigen wird, dann weckt das schon eine große Neugier. Außerdem habe ich mich schon immer ein wenig für Kunst interessiert. Die Verbindung von einem Mord, einem van Gogh und der Gesellschaft von Ihnen ist eine unwiderstehliche Kombination.“
Sie musste schmunzeln. Das war doch eine ganze andere Form des Schmeichelns, als Ralfs plumpe Annäherungsversuche.
„Wollen oder können Sie mir nun sagen, was Ihr Auftraggeber mit meinem, nein mit unserem Opfer zu tun hat?“
„Nun, da ich inzwischen das Vertragsverhältnis mit meinem Klienten gelöst habe, sehe ich mich nicht mehr in der Pflicht der Verschwiegenheit. Aus ethischen Gründen werde ich Ihnen den Namen meines Klienten dennoch nicht nennen, aber zumindest die Beweggründe für meinen Auftrag. Mein Klient ist daran interessiert, ein Gemälde von van Gogh zu verkaufen. Kennen sie van Gogh?“
„Den Maler? Das ist doch der mit den Sonnenblumen, der sich irgendwann ein Ohr abgeschnitten hat.“
„Der Wegbereiter der Expressionisten.“ Er stockte einen Moment. Seine Augen wanderten in die Ferne, als würde er sich eines der Bilder von van Gogh vor seinem geistigen Auge vorstellen. In seinen Augen lag plötzlich eine solche Sehnsucht, dass sie ihn am liebsten geküsst hätte. Langsam kam er an den Tisch zurück.
„Nun, van Gogh hat die Malerei sicher wie kaum ein anderer nachhaltig verändert. Zu Lebzeiten noch verkannt und oft bettelarm, ist sein Werk heute eines der bekanntesten und wertvollsten in der Kunstszene. Seine Bilder bringen Höchstpreise. Mein Klient jedenfalls ist im Besitz eines original van Gogh Gemäldes. Der „Maler auf dem Weg nach Tarascon“ ist in den Wirren des Krieges verloren gegangen. Ich weiß nicht, wie mein Klient in den Besitz dieses Bildes gekommen ist, aber da es vermutlich nicht ganz legal war, versucht er nun auf inoffiziellem Wege das Bild zu verkaufen.“
„Auf inoffiziellem Weg?“, fragte sie, obwohl sie kaum zugehört hatte. Seine Stimme und seine Art zu reden, wie er dabei kaum merklich aber doch nachdrücklich den Kopf bewegte, lenkten sie zu sehr ab.
„Nun, wenn er das Bild auf einer öffentlich Auktion anbieten würde, würde er sicher das Doppelte bis Dreifache bekommen, doch dann müsste er auch nachweisen, dass das Bild in seinem rechtmäßigen Besitz ist. Dass er dieser Möglichkeit ausweicht und damit auf drei bis fünf Millionen Dollar verzichtet zeigt mir, dass er das Bild auf einem eher dunklen Kanal erworben hat.“
„Warum will er es denn verkaufen?“
„Ich habe mich selbstverständlich auch über meinen Klienten erkundigt. Er ist ein Lebemann, der es in den letzten Jahren kontinuierlich geschafft hat, das wertvolle Erbe seines Vaters zu vergeuden. Da kommen drei Millionen Dollar gerade recht.“
Die Kellnerin kam. Sie hatte noch nicht einmal in die Karte geschaut.
„Soll ich für uns beide bestellen?“, fragte er vorsichtig und doch nicht ohne einen Hauch von Dominanz.
„Sehr gerne“, sagt sie und lehnte sich zurück.
Er bestellt eine Reihe von Tapas und forderte nun den schon georderten Wein. Sie genoss seine Aufmerksamkeit, seine Umsicht, seine Aura.
„Zurück zu uns“, sagte er, schaute sie direkt an und machte eine lange Pause.
„Zurück zum Fall“, er grinste. „Mein Klient hatte die E-Mail Adresse von Herrn Bock von einem Freund mit dem Hinweis bekommen, dass dahinter ein Vermögender Kunstliebhaber stecken würde. Doch ab hier wird das Ganze etwas mysteriös.“
„Weil unser Herr Bock sich eher das Playmate des Monats an die Wand hängen würde als einen echten van Gogh“, sagt sie und wunderte sich selbst über den Vergleich. Sie Lächeln in den Mundwinkeln gefiel ihr.
„Da ich nicht davon ausgehe, dass die Information des Freundes fehlerhaft war, und Herr Bock wohl kaum selbst der Käufer ist, habe ich verzweifelt versucht herauszufinden, ob Herr Bock nur ein Mittelsmann ist, aber ohne Erfolg.“ Er zögerte. „Warum lächeln Sie?“
„Ich frage mich, was Sie über mich herausfinden würden und ob Sie vielleicht sogar schon damit angefangen haben.“
„Sie wissen doch, ich muss über meine Beobachtungen Stillschweigen wahren.“ Sein verschmitzter Blick mache ihn zwanzig Jahre jünger.
„Wissen Sie übrigens, dass es neben dem Bild ‚Maler auf dem Weg nach Tarascon‘ noch zwei weitere van Gogh Bilder gibt, die nach Tarascon benannt sind?“
„Nein“, sagte sie erstaunt. Erstaunt nicht nur über die Tatsache, sondern über sein Wissen über van Gogh.
„Es gibt noch ein Bild einer Postkutsche, ein Bild einer Eisenbahnbrücke und eine Zeichnung, die wie eine Vorstudie zu dem eigentlich Bild gesehen werden kann.“
„Und nun gibt es sogar noch einen Drachen von Tarascon“ sagte sie und genoss seinen irritierten und interessiert Blick, in dem sicheren Wissen, dass dieses Interesse nicht nur dem Drachen galt.


Mittwoch, 21. Dezember 2011

7. Kapitel: Alte und neue Partner

Ari Kelch hatte viel Zeit zum Nachdenken als er in Untersuchungshaft saß. Schließlich bat er darum, ein Telefongespräch nach Argentinien führen zu dürfen. Das Telefonat wurde ihm bewilligt.
Er tippte die Nummer ins Telefon und lauschte dem Klingelton.
„Bessi“, ertönte es auf der anderen Seite.
„Kelch hier“, antwortete Ari.
„Hatten wir nicht ausgemacht, dass Sie mich niemals zu Hause anrufen?“
„Es ist ein Ausnahmefall. Ich sitze in Berlin in Untersuchungshaft und werde des Mordes an Randolf Bock beschuldigt.“
Am anderen Ende war es still.
Dann antworte Konrad Bessi in überraschtem Ton:
„Randolf Bock wurde umgebracht?“
„Ja. Ich war es aber nicht. Sie gaben mir den Auftrag, ihn auszuforschen und eine Akte über ihn zu erstellen, und genau das habe ich getan. Mehr nicht.“
„Nun,“ antwortete Bessi zögerlich, „ich weiß nicht, was Sie getan haben und was nicht. Ich weiß nur, dass ich Ihnen lediglich den Auftrag gab, Randolf Bock zu überprüfen. Mehr nicht. Aber Sie sind sich schon im Klaren darüber, dass der Auftrag geheim war und Sie nicht darüber sprechen dürfen, oder?“
„Genau deshalb rufe ich Sie an,“ antwortete Ari Kelch. „Die Umstände haben sich geändert. Um meine Unschuld zu beweisen, muss ich mit der Polizei in Deutschland kooperieren und die Sache offen legen. Ich teile Ihnen hiermit mit, dass ich kein Geld für den Auftrag annehmen werde und unser Vertragsverhältnis kündige.“
Konrad Bessi überlegte kurz. Dann erwiderte er:
„In Ordnung. Aber denken Sie nicht, dass ich Ihnen helfen werde. Schließlich weiß ich nicht, ob Sie den Mord begangen haben oder nicht. Und ich werde Ihre Akte vernichten und unsere Vertragsbeziehung leugnen, wenn mich jemand danach fragt. Ich möchte nichts mit dem Mord zu tun haben.“
„Ich verstehe. Dann ist ab jetzt jeder auf sich gestellt. Jeder wird versuchen, seine eigene Unschuld zu beweisen. Uns verbindet nichts mehr.“
„Genauso ist es.“, antwortete Konrad Bessi. Dann fügte er abrupt hinzu: „Hat mich gefreut“ und legte den Hörer auf.
  
Gerade als Ari Kelch den Hörer auflegte, kam ein Vollzugsbeamter auf ihn zu und forderte ihn auf, seine Sachen zu packen.
„Werde ich verlegt?“, fragte Ari.
„Nein, entlassen. Frau Mayer-Galotti erwartet sie draußen.“, gab der Beamte zurück.
Ari Kelch schaute überrascht, packte aber eilig seine Sachen und folgte dem Beamten zum Ausgang.
Nachdem die Formalien erledigt waren und Ari seine Papiere zurück erhalten hatte, kam Verena Mayer-Galotti auf ihn zu, begrüßte ihn und sagte:
„Es tut mir leid für die Unannehmlichkeiten. Es hat einen weiteren Mord gegeben, als Sie in Untersuchungshaft saßen. Die Zeugin Magdalena Zöllner wurde umgebracht. Wir gehen davon aus, dass es sich um den selben Mörder handelt, der auch Randolf Bock ermordet hat und dass der Mörder Frau Zöllner aus dem Weg räumen wollte, weil sie ihn erkannt hat oder weil sie ihm auf eigene Faust hinterher geschnüffelt hat. Sie sind somit entlastet.“    
Ari Kelch lächelte schwach.
„Das trifft sich gut,“ sagte er dann. „Ich wollte sowieso mit Ihnen reden. Ab jetzt werde ich mit Ihnen kooperieren. Sie hatten Recht und es gab zwischen mir und dem Argentinier Konrad Bessi eine Verbindung. Er gab mir den Auftrag, Randolf Bock auszukundschaften und eine Akte über ihn zu erstellen. Das habe ich auch getan. Dabei habe ich die Objektivkappe verloren. Aber von Mord war niemals die Rede.“
„Das heißt, Sie bleiben noch, um mir zu helfen?“
„Ich bleibe in Berlin und helfe Ihnen, den Fall aufzuklären.“
„Das trifft sich gut,“ erwiderte Verena und spiegelte das schwache Lächeln von Ari zurück. „Mein Partner hat sich nämlich gleich nachdem er aus dem Urlaub kam, krank gemeldet. “    


Dienstag, 20. Dezember 2011

6. Kapitel: Die verräterische Waffe

Entsprechend Verenas Erwartung ging die Suche nach Hans Müller nur schleppend vorwärts, da es 8785 Namenstreffer in Deutschland gab, und keiner der wenigen Namensträger im Vorstrafenregister passte auf das Phantombild. 
„Mist“, fluchte Verena. „Das wäre auch zu einfach gewesen .“
Vielleicht war Hans Müller auch nur ein Deckname?

Ein schrilles Telefonklingeln riss Verena aus ihren Gedankengängen. Auf dem Display erkannte die Nummer vom Einsatzteam der Schutzpolizei.
„Was gibt's!?“
„Frau Mayer-Galotti, wir habe noch eine Leiche, nur ein paar Meter weiter entfernt von letzten Fundort. Spandauer Brücke 12!“
„Number 12?“ Es ratterte in Verena Hirn. Es war doch das Haus, in dem...
„Die Ermordete heißt Magdalena Zöller. Sie wurde in ihrer Wohnung tot aufgefunden mit einer Schussverletzung.“
Verena schloss die Augen und versuchte, tief durchzuatmen.
„Okay, ich bin in einer viertel Stunde da“, sagte sie dann.

Am Tatort angelangt, traf sie wieder auf Ralf von der Spusi.
„Ah, Frau Kollegin, haben Sie Sehnsucht nach mir gehabt?“, witzelte er.
„Ganz genau, Ralf, ich hab‘s ohne deine Nähe einfach nicht ausgehalten“, erwiderte Verena mit leicht genervtem Tonfall. Wie weit seid ihr denn mit der Spurensicherung?“
„Sie muss aus nächster Nähe erschossen worden sein, wahrscheinlich mit einem Revolver.“
„Irgendwelche Anzeichen, die auf einen Raubmord schließen lassen?“
„Nichts, wir haben ein paar Goldmünzen im Schrank und knapp 100 Euro in ihrem Portemonnaie gefunden. Das sieht nicht danach aus, als ob der Mörder auf ihre kleine Rente erpicht gewesen wäre.“
„Sonst etwas Auffälliges?“
„Nichts, auch das Türschloss ist unversehrt. Interessant war zunächst nur das hier.“
Ralf wies auf ein Opernglas, das griffbereit auf der Wohnzimmercouch lag.
Verena starrte darauf.
„Wieso zunächst?“
„Weil wir in Frau Zöllners Schublade in der Küche eine etwa zwei Monate alte Rechnung über das Opernglas gefunden haben. Teures Ding! Und es sieht nicht danach aus, als habe der Mörder es hier vergessen.“
„Darf ich mal?“, fragte Verena und zog sich Gummihandschuhe über. Dann fischte sie das Glas aus der Plastikhülle der Spusi und ging damit auf den Balkon. Sie setzte das Glas an ihr Gesicht und nahm damit das Hotel gegenüber ins Visier.
„Meine Herren“, sagte sie staunend, während sie ein Zimmermädchen beobachtete, das gerade ein Hotelbett herrichtete. „Na, damit hätte ich auch ein Phantombild des Mörders erstellen können. Da hat unsere gute Frau Zöllner ja doch die Wahrheit gesagt.“
Verena machte sich plötzlich Vorwürfe. Sie hatte Frau Zöllner nicht ernst nehmen wollen, hatte nicht geglaubt, dass die „Quatschtante“, die sie in ihren Augen war, etwas Nützliches zu dem Fall beitragen konnte.
Aber nun erschien plötzlich alles in einem anderen Licht. Frau Zöllner hätte Schutz gebraucht und nicht abgewimmelt werden dürfen.
Verena fühlte sich fürchterlich.
Als sie spät abends wieder auf dem Revier ankam, ging sie langsam zur Pinnwand und riss den Namen „Zöllner“ ab.
In ihrer Trauer stieg plötzlich ein tröstender Gedanke in ihr hoch: Ari Kelch konnte nicht der Mörder sein. Er saß in Untersuchungshaft.  

Am nächsten Morgen erhielt Verena einen Anruf von der Gerichtsmedizin. Am Ende der Leitung meldete sich Sven Schwenker.
"Frau Galotti, wir haben jetzt den Waffentypus identifiziert, mit dem die ältere Dame erschossen wurde."
Verena stöhnte. "Ich heiße nicht Galotti, sondern M a y e r-Galotti!"
"Ach, ich dachte, du hättest Giannis Namen angenommen."
"No, Signore, no. Aber schieß los Sven!"  
"Wir haben es mit einem halbautomatischen Handrevolver zu tun, 45er Kaliber."
"45er Kugeln?", fragte Verena, während etwas in ihr zu rattern begann.
"Ja, eine Kimber 45! Aber was ist denn jetzt mit dem Gianni? Man hört da so Gerüchte..."
"Was?", schrie Verena fast. "Seid ihr sicher?"
"Aber ja doch. Nun regt dich doch nicht so auf, ich hatte eben so verschiedene Sachen gehört. Seid ihr tatsächlich getrennt?" 
"Geschieden", entgegnete Verena trocken. "Aber das mit der Kimber 45 ist doch ein Ding. Genau diese Waffe hat der mutmaßliche Hans Müller erst kürzlich erworben. Und dann findet direkt gegenüber vom Tatort ein zweiter Mord statt. Soll das ein Zufall sein?"
"Das ist allerdings erstaunlich", gab Sven zu. "Aber wer macht denn so etwas Offensichtliches?"
"Vielleicht wollte der Mörder ein Zeichen setzen. Vielleicht ist das seine Art mit uns zu kommunizieren. Ich hoffe nur, dass es nicht weitere Morde gibt. Das müssen wir unbedingt verhindern."


Montag, 19. Dezember 2011

5. Kapitel: Das Gesicht des Affen

Ari Kelch starrte auf die Handschellen. „Bitte“, murmelte er, „ist das nötig? Ich folge Ihnen auch so, Frau Mayer-Galotti. – Außerdem würde ich gern ein paar persönliche Dinge mitnehmen. Wenn das erlaubt ist. Ich weiß ja nicht, wie lange es dauert.“
Verena war derart verblüfft von seiner Höflichkeit, dass sie fast schwach geworden wäre. Als könne jemand, der sich ihren Namen nach einmaligem Hören korrekt merkte, kein Mörder sein. Sie rief sich innerlich zur Ordnung. „Tut mir leid, Herr Kelch. Sagen Sie, was Sie mitnehmen wollen, ich packe es ein.“
Auch das war nicht korrekt, das wusste sie.
Er streckte seine Hände aus und hielt ihr die Lesebrille entgegen. „Wenn Sie die bitte ins Etui …“
Dann packte sie noch seine Zahnbürste, eine Strickjacke und ein Buch vom Nachttisch ein. Als sie den Titel las, schluckte sie. Es war „Humanismus als reale Utopie“ von Erich Fromm. Dasselbe Buch hatte sie gerade von einer Freundin ausgeborgt. Es lag zu Hause auf ihrem Nachttisch. Quasi als Gegengewicht zu ihrer Arbeit las sie abends immer ein paar Seiten darin. Ja, konnte denn ein Mensch, der so etwas las … nein, sie würde sich jetzt nicht beirren lassen. Die Verdachtsmomente waren alarmierend genug.
Verena übergab Ari Kelch an einen eintreffenden Streifenwagen und wie die Beamten an, ihn auf's Revier zu bringen und dort zu verwahren, bis sie eintraf, um ihn zu vernehmen.
Eigentlich hätte sie dem Streifenwagen unmittelbar folgen sollen, zumindest gingen die Beamten davon aus, fühlte sich aber außerstande dazu. Sie war viel zu durcheinander. In diesem Zustand konnte sie kein sachliches Verhör führen.
Sie setzte sich ins Auto, zog sofort die Schachtel aus der Tasche und sog gierig den Rauch ein. Dabei guckte sie geistesabwesend aus dem Fenster und überlegte. Ari Kelch musste schuldig sein. Oder? Was machten sonst die Fotos des Opfers in seiner Wohnung? Und er war bei dessen Wohnung gewesen, das konnte er nicht leugnen. Warum hatte der Mann sie angelogen? Er musste zumindest etwas wissen. Und warum, verdammt noch mal, war er ihr so unglaublich sympathisch? Verliebte sie sich jetzt schon in Mörder? War sie verrückt geworden?
Vielleicht würde eine zusätzliche Recherche in der Nachbarschaft doch noch andere Hinweise ergeben und vor allem zu der unbekannten Freundin führen.  Vielleicht gab es etwas, das Kollege Haase übersehen hatte? Ari Kelch konnte und durfte nicht verdächtig bleiben...
Verena fuhr los. Unterwegs rief sie ihren Kollegen Haase an und trug ihm auf, sofort noch einmal bei Paul Kamm vorbei zu fahren und ihn bezüglich seines Aufenthaltsortes zur Tatzeit zu befragen. Sollte er ein Alibi haben, müsse Haase das Alibi auf Herz und Nieren prüfen.
Wie in Trance fuhr sie zur Hellersdorfer Strasse 488, stieg aus, klingelte an den Wohnungstüren der Nachbarn des Opfers und befragte die, die am hellerlichteten Tag zu Hause waren. Viele Nachbarn verhehlten ihre Erleichterung über Randolf Bocks Tod nicht, auch wenn keiner von ihnen spontan eines Mordmotives überführt werden konnte. Eine junge Frau gab es, drei Häuser weiter, die unglaublich hasserfüllt über Bock redete. Sie hatte zwei kleine Kinder, vier und sechs Jahre. Der Sechsjährige war gerade kürzlich bei einer Motorradattacke dieses Bock gestürzt. Er war schreiend und blutend nach Hause gelaufen, doch die Verletzung hatte sich lediglich als aufgeschürftes Knie herausgestellt. Diese Frau machte deutlich, dass sie ihm ein anständiges Höllenfeuer wünsche. Und dass sie sich freue, ihre Kinder nun endlich wieder ohne Angst nach draußen zum Spielen schicken zu können. Aber das war alles kein Grund … Was Verena absolut mysteriös vorkam, war, dass keiner der Nachbarn Bock jemals in Begleitung einer Frau gesehen haben wollte. Dass er eine Freundin hatte, war niemandem bekannt.  
Verena seufzte. Nach fünf Stunden gab sie ermüdet auf. Während der Befragungen war ihr viel durch den Kopf gegangen. Aber die schwierigste Aufgabe des Tages, das wußte sie, stand ihr noch bevor - auf dem Revier. 
Kollege Haase kam ihr sofort entgegen als sie zur Tür herein kam.
„Paul Kamm sagt, er wäre zur Tatzeit in einer Tabledance- Bar gewesen,“ stieß er hervor. „Bevor ich dorthin fahre, um zu prüfen, ob das jemand bestätigen kann, wollte ich dich erst mal fragen, ob du mitkommen willst.“
„Ach interessant,“ gab Verena zu.
„Und weißt du, was noch interessant ist? Kamm hat wider erwartend ein bisschen von Randolf Bock’s Freundin geplaudert.“
„Von der ich bezweifle, dass es sie wirklich gibt...“, entgegnete Verena.
„Nun ja, es handelt sich in der Tat um keine richtige Freundin. Sie ist eine Tänzerin in der selben Tabledance- Bar, die für Kamms Alibi herhalten muss. Früher waren die Beiden öfter gemeinsam dort. Dann verliebten sie sich in die selbe Tänzerin. Kamm kennt nur ihren Vornamen und der scheint ein Pseudonym zu sein: Linda. Offenbar war diese Linda Randolf Bock zugetan und hat sich  außerhalb ihrer regulären Arbeitszeiten mit ihm getroffen. Kamm war deshalb eifersüchtig. Zumindest ist das seine Version der Dinge.“
„Könnte ich Dich darum bitten, diese Linda sofort zu suchen?“, fragte Verena. Ich weiß, es ist nicht deine Aufgabe. Aber ich muss jetzt Ari Kelch verhören und habe keine Zeit. Ich habe Bocks Freundin schon den ganzen Tag gesucht.“
Als Kollege Haase erfuhr, dass sie noch mal in Hellersdorf gewesen war, blickte er sie enttäuscht an. Seinen Blick verstand sie wohl. Schließlich hatte er schon das ganze Umfeld abgeklappert. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie es hatte machen müssen, weil sie verzweifelt nach einer Entlastung für Ari Kelch suchte? Weil sie hoffte, zusätzliche Anhaltspunkte zu gewinnen, indem sie versuchte, sich in die Atmosphäre dieser merkwürdigen Wohngegend einzufühlen und dem Opfer auf diese Weise näher zu kommen? Die großen, weiten Straßen dort draußen, durch die der Herbstwind ungehindert mit seiner ganzen Wucht fegte und in denen man innerhalb kürzester Zeit bis auf die Knochen durchgefroren war … Der gigantische Himmel dagegen, der ihr gut getan hatte, den man in der Innenstadt niemals so sah … Die von außen so farbenfroh sanierten Plattenbauten, in denen sie, kaum dass sie das Treppenhaus betreten, Luftnot bekommen hatte, weil in ihnen genau die Enge und menschenverachtende Hässlichkeit wohnte wie in der Schule und im Haus ihrer Kindheit …  Sie musste an ihre Eltern denken, an die Zeit, als sie in den Neubau gezogen waren nach dem Wohnungsbauprogramm der Siebziger. Wie stolz ihre Mutter gewesen war! Ein Bad! Eine Zentralheizung! Keine Kohlen mehr schleppen, kein Außenklo mehr, und sogar ein Fahrstuhl! Verena dagegen hatte die Wohnung im Altbau geliebt, die hohen Decken, den Stuck und die Kachelöfen. Und als sie mit neunzehn aus der engen Neubauwohnung ausgezogen war, hatte sie wie ein Schwamm die Atmosphäre in der WG-Wohnung aufgesogen, die natürlich ein Altbau gewesen war. Die Ruhe der dicken Wände. Die Geschichte, die solch ein über hundertjähriges Haus ausstrahlte! Und heute, das Hotel von Ari Kelch, war auch ein Altbau gewesen. Sein Zimmer hatte sogar Stuck gehabt. Reliefs von Gesichtern an der Decke und in der Mitte Weinreben. Fotoapparate, Bilder, Bücher. Ein Mann, der liest! Ein sympathisches Zimmer. Geschmackvoll eingerichtet, schlicht und schön. So wie er... als sie ihn festgenommen hatte… Er war völlig gelassen geblieben, höchstens ein bisschen überrascht. War das nicht der Beweis, dass er nichts befürchtete, weil er unschuldig war?
Verena gab sich einen Ruck und konzentrierte sich auf die Pinnwand mit den Namen "Affe", "Zöllner", „Kamm“, „Bessi“, "Kelch" und „Linda“. Den letzteren Namen hatte sie gegen „Freundin, unbekannt“ ausgetauscht. Bisher lagen gegen niemanden so harte Beweise vor wie gegen Kelch. Sie musste sich ihn vornehmen. Konnte das nicht Dennis machen? Konnte der jetzt nicht einfach wieder da sein?
Sie würde ihn fragen, warum er gelogen hatte. Ihn in die Enge treiben. Hoffentlich war er dann nicht wieder so schrecklich charmant. Sie musste ihn fragen, warum er wirklich in Berlin war. Das mit dem Reiseführer war natürlich ein Witz. Hatte er Familie? Eine Frau? Eine Freundin?
Und dann plötzlich fiel ihr noch ein Strohhalm ein. Sie griff zum Hörer und wählte. Am anderen Ende erschallte es:
„Zöllner?“
„Guten Tag Frau Zöllner, hier ist Verena Mayer-Galotti von der Kriminal …“
„Guten Tag Frau Mayer! Haben Sie den Mörder gefunden? Nein? Dann haben Sie sicher noch Fragen an mich? Ich komme gern vorbei, muss Ihnen aber leider sagen, dass mir bis jetzt leider nichts Neues eingefallen ist.“
„Frau Zöllner, es geht um das Phantombild des Mannes, den Sie in Begleitung des Opfers gesehen haben.“
„Sie meinen den, der wie ein Affe aussah? Schön, dass Sie sich besonnen haben. Ich habe ja diesen Vorschlag mit dem Phantombild gleich gemacht, nicht wahr?“
Verena unterdrückte einen Wutimpuls.
„Meinen Sie, dass Sie sich noch genug erinnern, um es mit meiner Hilfe erstellen zu können?“
„Junge Frau, ich war Lehrerin, und als Lehrerin …“
„Ja, ich weiß. Sie sind Gesichtsexpertin. Könnten Sie sofort kommen, Frau Zöllner?“
„Selbstverständlich, wenn ich damit der Wahrheitsfindung diene. Ich kenne meine Pflicht. Ich bin gerade dabei, mir ein spätes Stück Kuchen zu gönnen, da ich heute Nachmittag einen Friseurtermin…“
„Essen Sie Den Kuchen in Ruhe auf, Frau Zöllner, und dann kommen Sie bitte her. Soll ich Ihnen ein Auto vorbeischicken?“
„Nein, auf gar keinen Fall. Ich bin noch rüstig genug, um den Weg selbst zu finden. Ist es die Adresse auf der Karte, die Sie mir gegeben haben?“
„Ja, Sie finden mich im ersten Stock. Zimmer 127. Ich danke Ihnen.“
„Aber gern. Bis gleich, Frau Mayer.“
„Bis gleich.“

Schon eine Stunde später hatte der Affe ein Gesicht. Es war, wie Verena befürchtet hatte, nicht besonders glaubwürdig. Ein absurdes Gesicht. Wenn dieser Mann nicht nur Frau Zöllners Phantasie entsprungen war, wenn es ihn tatsächlich gab, und wenn er tatsächlich so aussah – geradezu die Karikatur eines Neandertalers mit Elvis-Schmachtlocke – dann musste ihn jemand wiedererkennen.
Verena war Frau Zöllner nur schwer wieder losgeworden. Sie hatte sich mit aller ihr zur Verfügung stehenden Geduld noch eine Viertelstunde lang von den Erfolgen ihres glorreichen Berufslebens erzählen lassen, die, würden sie alle der Wahrheit entsprechen, Generationen von lebenstüchtigen, fleißigen, freundlichen und moralisch hochwertigen Schülern in die Welt hatten strömen lassen, die nun alle irgendwo sein mussten.
Nun war sie endlich wieder mit sich allein. Rasch schrieb sie einen entsprechenden Kurztext und verteilte diesen samt Phantombild an die üblichen Zeitungsredaktionen.

Um 19 Uhr Abends rang sich Verena endlich dazu durch, Ari aus seiner Verwahrung zu holen, wo sie ihn fast den ganzen Tag hatte ausharren lassen, und das Verhör durchzuführen. Der Kollege, der auf Ari Kelch aufgepasste hatte, schaute Verena missmutig an.
"Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Sie können jetzt gehen.", entschuldigte sie sich.
Dann wandte sie sich Ari Kelch zu.
"Würden Sie bitte mitkommen?"
Ari Kelch nickte müde.
Zusammen schritten sie in ein benachbartes Büro, dessen spärliche Inneneinrichtung mit einem Tisch und zwei Stühlen darauf schließen ließ, was hier in der Regel stattfand.
Verena deutete ihm an, sich zu setzen und zog ein kleines Aufnahmegerät aus der Tasche. Langsam legte sie es auf den Tisch und schaute verlegen auf Ari Kelch herab. Dann sagte sie zu sich selbst, dass er nur sehen konnte, was sie ihm zeigte und nur hören konnte, was sie ihm sagte. Ihre Gedanken konnte er nicht lesen. Er konnte nicht wissen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Und dann setzte sie sich eine kühle Maske auf und nahm ihm gegenüber auf dem Stuhl Platz.
"Ich sage Ihnen jetzt gerade heraus, was Sache ist", begann sie. "Sie sind aufgrund der Fotos, die ich bei Ihnen gefunden habe, die den ermordeten Randolf Bock in seiner Wohnung zeigen, möglicher Weise, der Letzte, der ihn lebendig gesehen hat. Das macht Sie zum Hauptverdächtigen. Sie haben das Recht, einen Anwalt zu diesem Verhör hinzuzuziehen. Möchten Sie davon Gebrauch machen?"
"Nein", antwortete Ari Kelch ruhig und schüttelte den Kopf. "Ich habe Randolf Bock nicht ermordet. Ich bin unschuldig."
"Das möchte ich Ihnen gern glauben, aber wenn Sie das nicht beweisen können, wenn Sie mir nichts zu Ihrer Entlastung vorweisen können, dann bin ich gezwungen, die Staatsanwaltschaft zu verständigen und Sie in Untersuchungshaft zu stecken."
"Ich vertehe." Ari Kelch atmete tief durch. "Ich hatte den Auftrag, Randolf Bock zu überprüfen. Ich bin Privatdetektiv." Ari Kelch zog eine Art Ausweis aus der Hosentasche und reichte ihn Verena.
Verena begutachtete ihn eingehend. Sie wünschte sich, dass der Ausweis echt war.
"Erzählen Sie mir von Ihrem Auftrag. Wer ist Ihr Auftraggeber?"
"Ich kann Ihnen den Namen meines Auftraggebers nicht verraten. Das unterliegt meiner Verschwiegenheitspflicht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass mir mein Auftraggeber gesagt hat, das Opfer wolle etwas von ihm kaufen. Der Auftraggeber wollte in Erfahrung bringen, wo der Käufer herstamme, ob er vertrauenswürdig war und in welcher finanziellen Lage er sich befand. Ich forschte Randolf Bock aus und stellte eine Mappe über ihn zusammen. Diese Mappe sandte ich bereits vor zehn Tagen nach Argentinien. Ich kann unmöglich der Letzte sein, der das Opfer lebendig sah."
"Nach Argentinien?", fragte Verena. "Ihr Auftraggeber ist Argentinier?" Ihr stieg sofort das illustre Kaufangebot des Van-Gogh-Bildes über drei Millionen Dollar in den Kopf.
„Konrad Bessi!", stieß sie laut hervor.
Ari Kelch zuckte zusammen.
"Das ist Ihr Auftraggeber, nicht wahr?"
"Das kann ich Ihnen unter keinen Umständen sagen. Wenn ich die Identität meines Auftraggebers preisgebe, bekomme ich mein Honorar nicht."
"Wenn Sie es nicht tun, kommen Sie in Untersuchungshaft. Ich kann Sie nur freilassen, wenn sich die tatverdächtigen Beweise gegen Sie widerlegen lassen."
Ari Kelch schwieg. Ihm war unwohl zumute. Aber nicht nur, weil die so charmant gestresste Ermittlerin den Namen seines Auftraggebers kannte, sondern auch, weil er sich angesichts des Mordes nicht mehr sicher war, ob es nicht vielleicht jemand auf ihn abgesehen hatte. Gab es jemanden, der ihm einen Mord anhängen wollte? Bevor er sich sein Honorar verdarb und zugab, für Konrad Bessi gearbeitet zu haben, wollte er unbedingt mit diesem sprechen und alle Möglichkeiten durchdenken.
"Also gut", sagte er ruhig. "Rufen Sie die Staatsanwaltschaft an und bringen Sie mich in Untersuchungshaft." Er war nahezu amüsiert darüber, wie erstaunt Verena Mayer-Galotti ihn ansah. Ihr Kehlkopf vibrierte leicht, und ihre schwarzen Locken hüpften im Takt empörter Schritte als sie den Raum verließ, um zu tun, wozu er sie zwang.

Verena träumte in dieser Nacht von Ari Kelch, der merkwürdigerweise wie ihr Vater aussah. Es war ein angenehmer Traum, in dem er ihr den Stuhl zurechtrückte und ihr, weil sie fror, eine feine, bunte Wolldecke um die Schultern legte, wobei er sie lange ansah. Er hatte blaue Augen. Hatte ihr Vater blaue Augen gehabt? Waren die Augen von Ari wirklich blau? Das Ärgerliche an diesem Traum war nur, dass er die ganze Zeit im Verhörraum spielte und weder sie noch Ari den Raum verlassen konnten, was eine beklemmende Atmosphäre erzeugte …

Als sie am nächsten Morgen den Gang entlang zu ihrem Büro ging, stand ein Mann vor ihrer Bürotür, bei dessen Anblick sie schmunzeln musste. Er trug bayerische Tracht. Sein Gesicht hatte allerdings einen ganovenhaften Ausdruck.
„Guten Tag. Mayer-Galotti. "
"Sie wollen zu mir?“
„Genau.“
„Worum geht es?“
„Um das Bild.“
„Um welches Bild?“
„Na, aus der Zeitung.“ Er holte eine Zeitung aus der Jackentasche und hielt ihr das Bild des ‚Affen‘ so dicht unter die Nase, dass sie unwillkürlich den Kopf zurück riss.
„Ich kenn' den“, sagte der Mann.
Verena straffte sich. „Okay“, sagte sie. „Entschuldigung, kommen Sie doch bitte rein.“
Der Mann gab seinen Namen mit Iwan Setschko an. Ein Russe in bayerischer Tracht. Das wurde ja immer besser! Und dann erfuhr Verena eine etwas verwickelte Geschichte von ihm. Setschko arbeitete im Jagdgeschäft Frankonia in der Friedrichstrasse und verkaufte dort Jagdwaffen, Sportwaffen und Handschusswaffen. In diesen Laden war besagter Mann vor zwei Wochen gekommen und hatte einen Revolver der Marke Kimber 45 gekauft. Die Prüfdokumente, Waffenschein und Ausweis, lagen vorschriftsmäßig vor. Iwan Setschko konnte sich noch genau an das Datum erinnern, als der Mann die Waffe kaufte, da der Käufer auch die letzten Patronen 45-igen Kalibers mitnahm. Setschko hatte noch am selben Tag eine neue Bestellung der Patronen aus den Vereinigten Staaten ausgelöst.
Nachdem nun also das Phantombild in der Zeitung erschienen war, hatte Setschko seinen Quittungsblock durchgeschaut und war sich sicher, Quittung und Gesicht dem Namen Hans Müller zuordnen zu können.
„Donnerwetter“, sagte Verena, „das haben Sie aber sehr gut gemacht, Herr Setschko!“, worauf sie ein breites Grinsen erntete. Zwar bedeutete ein Name wie Hans Müller immer Zeitaufwand, da viele Personen durchleuchtet werden mussten, aber am Ende des Tunnels gab es ein Licht. Sicherlich gab es auch Unsicherheiten, denn bei dem möglichen Mord an Rudolf Bock war überhaupt keine Waffe zum Einsatz gekommen. Aber vorläufig hatte der Affe nicht nur ein Gesicht sondern auch einen Namen.


Sonntag, 18. Dezember 2011

4. Kapitel : Die verräterische Objektivkappe

Gleich zu Anbeginn des nächsten Arbeitstages machte Verena den neuen Verdächtigen, Ari Kelch, in einem günstigen Hotel im Berliner Stadtbezirk Mitte ausfindig. Er hatte dort vor drei Wochen, am Tag seiner Ankunft aus Argentinien, ein Zimmer gemietet und dies auch seither bewohnt. Dieser Umstand machte Verena stutzig. Entweder war Herr Kelch besonders abgebrüht oder aber er fühlte sich auffallend sicher. Warum sonst sollte jemand, der einen Mord begangen hat, sich so leicht finden lassen und nicht die geringsten Anzeichen liefern, seine Spuren verwischen oder flüchten zu wollen? Warum war er immer noch in Berlin und nicht gleich nach der "Tat", sofern er sie begangen hatte, abgereist?
Sie fragte sich, ob es eine gute Idee war, allein zum Hotel zu fahren, hatte aber keine Wahl. Bis Dennis aus dem Urlaub zurückkehrte, musste sie allein zurechtkommen. Kollege Haase unterstützte sie zwar punktuell, gehörte aber eigentlich zum Innendienst und hatte viele andere Aufgaben. Bis auf ihn gab es aufgrund von Personalmangel keine weitere Unterstützung.
Verena ärgerte sich zunehmend, dass sie sich andauernd und allein Gefahren aussetzen musste, weil ihr Partner entweder krank oder im Urlaub war. Sie zündete sich gestresst eine Zigarette an, während sie im Auto saß und durch den Stau navigierte. Es ging so gut wie überhaupt nicht vorwärts.
In der Konsole zwischen Fahrer- und Beifahrersitz lagen Entwöhnungstabletten. ‚Ja, den Gedanken ans Aufhören hatte sie schon gehabt…!’ Verena warf sie wütend beiseite.
"Gott, bin ich sauer", entfuhr es ihr. "Auf Dennis, auf meinen Ex-Mann, auf Pestfliegen wie Ralf oder Frau Zöllner, auf den Stau..., auf mich selbst. Was für ein Dreckstag!"
Im Hotel angekommen, war es zehn Uhr. Sie wies sich an der Hotelrezeption als Kriminalbeamtin aus und lies sich die Zimmernummer von Ari Kelch geben. Dann näherte sie sich mit bestimmten Schritten seiner Zimmertür und klopfte.
"Ja?", ertönte eine freundlich, ältere Männerstimme.
"Verena Mayer-Galotti von der Kriminalpolizei. Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen. Würden Sie bitte die Tür öffnen?", forderte sie in barschem Ton.
"Sofort.", antwortet die Stimme erneut. Als sich das Schloss drehte, wich Verena einen Schritt beiseite. Im Türrahmen erschien ein schlanker, grauhaariger Mann, der sich gerade seine Lesebrille abnahm. Er trug eine schwarze Anzughose und ein beigefarbenes, an den Ärmeln leicht hochgekrempeltes, Hemd. Seine wässrig blauen Augen blickten Verena erwartungsvoll aber ruhig an.
"Sind Sie Herr Ari Kelch?", fragte Verena.
"Der bin ich. Worum geht es denn, wenn ich fragen darf?", erwiderte er in akzentfreiem Deutsch.
"Um eine Mordermittlung und Ihre Spuren am Tatort.", antwortete Verena.
"Oh!", stammelte Ari Kelch. "Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Aber kommen Sie doch bitte herein."
"Es handelt sich bisher lediglich um eine Befragung.", antwortete Verena und betrat das Hotelzimmer. Ohne ihre Sachen abzulegen, setzte sie sich auf einen Schreibtischstuhl und wartete, bis Ari Kelch auf dem einzigen Sessel des Zimmers Platz genommen hatte. Im Zimmer war es angenehm ruhig. Herr Kelch strahlte Ruhe aus. Sie wurde sich bewusst, dass der Stress und der Ärger, die sie noch vor wenigen Minuten empfand, merklich nachließen. Langsam zog sie zwei Fotos aus der Tasche und gab sie ihm.
"Das erste Foto zeigt die Objektivkappe einer Leica- Kamera, auf der Ihre Fingerabdrücke gefunden wurden. Das zweite Foto zeigt den Ort, an dem die Kappe lag, und zwar vor dem Fenster der Hellersdorfer Strasse 488. In genau dieser Wohnung wohnte ein Mann, der gestern ermordet wurde. Würden Sie bitte bestätigen, dass die Kappe von Ihnen stammt und erklären, was Sie an diesem Ort zu suchen hatten?"
Herr Kelch schien überrascht. Wenn er die Überraschung spielte, hatte er seine Berufung verpasst, nämlich die, Schauspieler zu werden.
"Es stimmt. Dies ist meine Objektivkappe. Ich habe sie schon vermisst. Allerdings habe ich die Kappe schon vor zwei Wochen verloren. Ich bin Fotograf und komme aus Argentinien. Ich bin in Berlin, weil ich an einem Reiseführer über Berlin arbeite. Vor zwei Wochen führte mich mein Weg in den Stadbezirk Hellersdorf, weil ich an der Hauswand der Alice Salomon Hochschule ein Gedicht abfotografieren wollte. Da bin ich etwas im Bezirk herumspaziert und habe auch an anderen Stellen Fotos gemacht. Irgendwo habe ich die Kappe verloren. Aber wie gesagt, an die genaue Stelle erinnere ich mich nicht. Ich habe sie einen Tag später noch mal gesucht aber nicht gefunden."
"Seit wann sind Sie in Deutschland und wie lange gedenken Sie zu bleiben?", fragte Verena.
"Ich bin vor genau drei Wochen, am 04.09., eingereist und bleibe noch weitere drei Tage.", gab Ari Kelch bekannt. Seine Aussage deckte sich mit den Informationen, die Verena bereits vorlagen.
"Haben Sie einen Zeugen, der bestätigen kann, was Sie gerade sagten? Oder haben Sie Fotos, an deren Datum sich ablesen lässt, wann sie gemacht wurden?", frage Verena.
"Leider nein. Meine Kamera ist ein älteres Modell und hält noch kein Datum fest. Ich war allein unterwegs."
"Dann muss ich Sie leider bitten, mit Ihrer Abreise zu warten, bis unsere Untersuchungen abgeschlossen sind. Bis auf weiteres liegt ein Tatbestand der Verdächtigung vor."
"Nehmen Sie mich jetzt etwa fest?" fragte Herr Kelch mit aufgeregter Stimme.
"Nein. Ich möchte nur, dass Sie in der Stadt bleiben.", erwiderte Verena.
Herr Kelch atmete tief durch, erleichtert.
"Ich lasse Ihnen meine Karte da, falls Ihnen noch etwas zu Ihrer Entlastung einfällt. Umgekehrt werde ich mich sofort bei Ihnen melden, wenn sich die Umstände des Falles ändern."
Herr Kelch nickte.
"Ich verstehe.", tat er kund.
Seine Stimme erweckte Sympathie.
"Es tut mir leid für die Umstände. Falls Sie durch den verlängerten Aufenthalt finanzielle Probleme oder Einbußen haben, lassen Sie es mich bitte wissen. Im Falle Ihrer nachgewiesenen Unschuld kümmere ich mich um eine Entschädigung." Verena war über ihren eigenen Vorschlag überrascht, aber noch mehr über ihre Stimme, die nahezu sanft klang.
"Ich bin bereits Rentner und mache den Reiseführer nur zum Spaß. Es macht mir nichts aus, einige weitere Tage hier zu bleiben. Meine Eltern kommen aus Berlin und sind nach dem Krieg, den sie als Juden nur durch ein Wunder überlebten, nach Argentinien ausgewandert. Ich wandle gern auf den Spuren meiner Herkunft."
"Wie haben Ihre Eltern denn überlebt?", fragte Verena mit Interesse.
"Das weiß ich nicht. Sie haben es nie jemandem erzählt. Auch mir nicht. Und jetzt sind sie schon seit einigen Jahren tot."
Verena nickte. Sie fand, dass der Mann, der ihr gegenüber saß, höchstens wie 50 aussah und einen sportlichen, vitalen Eindruck machte. Er sah keineswegs wie ein Rentner von 62 Jahren aus. Seine drahtigen, gepflegten Hände spielten noch immer mit seiner Lesebrille.
Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie weiter fragen sollte, aber zum Gehen war ihr irgendwie nicht zumute. Appetit hatte sie plötzlich. Ari Kelch blickte sie aufmerksam an. Sie senkte ihren Blick, etwas beschämt. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Fotos, den sie schnell zur Hand nahm und darin umherblätterte, um die peinliche Pause zu überspielen.
"Sind dies die Fotos, die Sie bisher in Berlin gemacht haben?", fragte sie lebhaft.
"Ja.", gab Ari Kelch zurück und sprang plötzlich auf, stürzte hektisch auf den Schreibtisch zu und versuchte, die Fotos an sich zu reißen.
Aber es war zu spät. Verena hatte bereits gefunden, was Ari Kelch verbergen wollte: ein Foto von Randolf Bock in seiner Wohnung in der Hellersdorfer Strasse, fotografiert von außen durchs Fenster.
Verena erhob sich. Ari Kelch fror auf der Stelle ein. Enttäuschung war in Verenas Gesicht geschrieben. Bedauern im Gesicht ihres Gegenübers.
"Ich muss Sie bitten mit auf das Revier zu kommen. Ich nehme Sie hiermit aufgrund des dringenden Tatverdachts, den Mord an Randolf Bock begangen zu haben, fest.", brachte sie hervor und legte Ari Kelch Handschellen an.


Samstag, 17. Dezember 2011

3. Kapitel: Die Verdächtigen


Verenas Kollegen hatten sehr schnell Randolf Bocks Wohnung in Berlin-Hellersdorf abgesichert und auf erste Hinweise durchsucht. Sie fanden nicht viel, doch für Verena zeichneten sich erste Umrisse der Persönlichkeit des Ermordeten ab: Der Mitdreißiger war Maurer gewesen und hatte sich meistens als Saisonarbeiter verdingt. Es schien teuren Whiskey, KungFu- und Actionfilme gemocht zu haben. Seine Schrankwand im Wohnzimmer entpuppte sich als eine beachtliche Filmothek von zahlreichen DVDs, vorzugsweise mit Charlie Chen, Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger und anderen Kämpfernaturen Hollywoods. Das vergangene Jahr hatte er durchgehend Arbeitslosengeld-II bezogen, hatte viel Geld für Lottoscheine, Cannabis, Whiskey und Bier verbraten und so einige Schulden angehäuft. Zumindest ließen das die diversen Mahnbriefe von Inkasso-Firmen und dem Amtsgericht, die Verenas Kollegen in Bocks Wohnung gefunden hatten, mutmaßen.

Verena hatte sich aufgemacht, Randolf Bocks letzten Chef zu befragen, einen überarbeiteten Bauleiter, der gerade ein Bauobjekt in der Nähe des Bahnhofs Gleisdreieck durchführte.
„Was soll ich Ihnen denn sagen?“, meinte er achselzuckend. „Der Herr Bock war nicht weiter auffällig, außer, dass er uns manchmal mit irrwitzigen Gehaltsforderungen auf den Geist ging. Aber das geht in der Branche nun mal nicht, da geht es ums nackte Überleben. Da gilt es, sich zu entscheiden: Fressen oder gefressen werden. Und wer überleben will, muss nun mal die Preise unterbieten. Da kann man keine Rücksicht nehmen, ob jemand ne Familie oder ne verwöhnte Lady zur Freundin hat. Verstehn Se?“
„Hatte Herr Bock denn eine Familie oder eine Freundin, die er unterstützen musste oder wollte?“
„Familie glaub ich nicht. Aber eine Braut war da zuletzt wohl schon im Spiel. Deswegen hatte er sich doch immer mit dem Kamm in den Haaren gehabt.“
„Mit dem Kamm in den Haaren?“ Verena sah den Bauleiter irritiert an.
„Na, in die Wolle haben se sich gekriegt, der Kamm und der Bock! Das meine ich.“
„ein Herr Kamm also“, sagte Verena, „Ich nehme an, Herr Kamm war ein Kollege von Herrn Bock...“
„Ganz genau. Ganz früher waren die Beiden wohl mal richtig gute Kumpels, aber dann... “
„Verstehe – arbeitet Herr Kamm denn noch bei Ihnen?“
„Ja, der müsste gleich aus der Mittagspause hier aufkreuzen. Ach seh‘n Se, da kommt er schon.“ Der Bauleiter winkte einen Mann im Blaumann herbei, der mit hängenden Schultern und düsterem Blick auf sie zuschlürfte.
„Was gibt's, Chef?“, fragte er missmutig.
„Paul, das hier ist Frau Mayer... äh... Mayer-Salotti von der Kripo!“
Verena räusperte sich. „Hauptkommissarin Mayer-Galotti, guten Tag, Herr Kamm. Ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen.“
Paul Kamm sah Verena misstrauisch an.
„Und? Worum geht’s?“
„Es geht um Randolf Bock. Wie ich höre, waren Sie beide enge Kollegen gewesen.“
Paul Kamms Blick wurde noch düsterer.
„Jewesen. Ganz richtig, enge Kollegen - jewesen. Det war einmal.“
„Das mit der Vergangenheit haben Sie ganz treffend erfasst. Ihr ehemaliger Kollege ist nämlich tot.“
„Tot. Wie tot?“ Kamm sah Verena erst irritiert an, dann brach er plötzlich in ein heiseres Lachen aus.
„Ach, hat er sich endlich zu Tode jesoffen oder hat ihn die Tusse zu Tode je...?“ Er brach ab, um nun noch lauter und dreckiger zu lachen. „Ich fass es nicht. Ik fass et nicht.“
„Herr Kamm, ihr früherer Kollege wurde ermordet“, sagte Verena scharf.
„Wie jetzt? Ermordet? Und was hab ich damit...“ Er sah die Hauptkommissarin abwehrend an. „Ach, woll‘n Se mich jetzt dafür beschuldigen oder wie?“
„Noch beschuldigt Sie niemand. Aber da war doch eine Frau zwischen Ihnen Beiden, nicht wahr?!“
Paul Kamms Gesicht nahm jetzt eine rote Farbe an.
„Lassen Se mich bloß in Ruhe mit der Ollen“, knurrte er wutschnaubend. „Ick will mit der nichts mehr zu tun haben. Mit ihr nicht und ebenso wenig mit dem Bock.“
„Wie ist denn der Name der Dame?“
„Haben Sie mich nicht verstanden? Ich hab mit der Sache abjeschlossen. Ende. Aus. Finito.“
„Aber Sie würden uns sehr helfen, wenn...“
Doch Paul Kamm zuckte nur mit den Schultern.
„Ich muss jetzt weitermachen“, sagte er, drehte sich um und ging.
„Herr Kamm, wo waren Sie denn gestern Mittag gegen 12 Uhr?“, rief Verena ihm hinterher.
Doch Paul Kamm zuckte nur erneut mit den Schultern und ging unbeirrt weiter.
„Herr Kamm, wir sind noch nicht fertig“, rief Verena. „Und wenn Sie weiter so die Zusammenarbeit mit uns boykottieren, machen Sie sich verdächtig.“
Doch da war Paul Kamm schon hinter dem Rohbau der Baustelle verschwunden.

Verena dröhnte der Kopf. Was war das nur für eine merkwürdige Geschichte!
Gerade, als ihr Kollege von der Technik hereinkam, um ihr die Ergebnisse der Computerauswertung zu bringen, klingelte schon wieder das Telefon.
Sie nahm ab. „Mayer-Galotti?“
„Ja, guten Tag, Frau Mayer, ich bin es noch einmal, Frau Zöllner. Ich störe Sie hoffentlich nicht. Erinnern Sie sich an mich?“
Verena wäre fast eine unhöfliche Bemerkung herausgerutscht. Welch eine penetrante Frau! Nicht nur, dass sie derart früh am Tatort aufgetaucht war, nein, jetzt rief sie auch noch ständig an, als wäre dieser Mord das Zentrum ihres Rentnerlebens! Verena holte tief Luft und sagte so freundlich wie möglich: „Natürlich erinnere ich mich an Sie, Frau Zöllner.“
Kurz überlegte sie, ob sie der Frau noch einmal ihren vollständigen Namen angeben sollte, entschied sich dann aber dagegen. Von Anfang an hatte die Zeugin sie Frau Mayer genannt.
„Ja, also wissen Sie Frau Mayer, mir ist da noch etwas sehr Wichtiges eingefallen. Und man ist ja als Bürger zur Mitwirkung bei der Aufklärung von Verbrechen verpflichtet, nicht wahr. Die meisten Menschen würden es nicht tun, aber ich nehme diese Pflicht sehr ernst! Und Sie sagten mir ja auch, wenn mir noch etwas Wichtiges einfallen sollte, könnte ich Sie anrufen…“
„Hm“, machte Verena, die sich im Stillen verfluchte, diesen Satz tatsächlich gesagt zu haben, vor allem ausgerechnet zu der Frau. Sie seufzte, winkte ihrem Kollegen, die Akte auf den Schreibtisch zu legen, und bemühte sich, mit der freien Hand eine Zigarette aus der Schachtel zu angeln.
„Das ist doch richtig?“
„Ja“, sagte Verena.
„Frau Meyer, ich habe mich wirklich noch einmal ganz genau erinnert. Ich habe mir den Abend vor zwei Tagen noch einmal sehr genau ins Gedächtnis gerufen …“
Gestern war der Mord geschehen, und jetzt rief diese Zöllner schon zum fünften Mal an! Verena hatte weiß Gott noch anderes zu tun, als alten Frauen, die nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten, den Alltag aufzupeppen!
„Ja und?“, murmelte sie und zündete sich die Zigarette an.
„Was ich sagen wollte: Natürlich habe ich die Gesichter der Männer nur aus großer Entfernung gesehen. Aber Sie wissen ja, dass ich Lehrerin war, nicht wahr? Und als Lehrerin wird man im Laufe des Berufslebens sozusagen zum Gesichtsexperten. Ich konnte mir immer schon sehr gut Gesichter einprägen, und habe meine Schüler regelmäßig in Erstaunen versetzt, dass ich bereits am zweiten Tag, nachdem ich sie kennengelernt hatte, alle namentlich benennen konnte. Treffsicher.“
„Großartig, Frau Zöllner“, knirschte Verena. „Aber Sie wollten mir etwas erzählen. Bitte fassen Sie sich doch etwas kürzer, ich…“
„Natürlich, natürlich, Sie haben ja zu tun. Ach - das muss ein so spannender Beruf sein, den Sie da ausüben, junge Frau! Bestimmt lieben Sie ihren Beruf ebenso wie ich meinen geliebt habe. Also, was ich Ihnen sagen wollte: Die beiden Männer, die ich vorgestern Abend ins Hotel gehen sah, der eine davon war ja eindeutig die Leiche, also die spätere Leiche meine ich natürlich …“
„Das sagten Sie schon.“ Verena fragte sich, warum sie immer noch so höflich war.
„Ja, aber der andere, und darauf wollte ich doch hinaus, der andere, das ist mir noch eingefallen, hatte so eine merkwürdige Frisur.“
„Aha“, sagte Verena und dachte für einen kurzen Moment: ‚diese Frau ist bestimmt selbst die Mörderin. So muss es sein. Die erzählt mir das hier doch alles nur, um mich zu verwirren. Warum ist die mir nur so furchtbar unsympathisch?’ Aber dann verwarf sie den Gedanken gleich wieder, weil er, nüchtern betrachtet, schlichtweg lächerlich war.
„Die Frisur war schief, wissen Sie, rechts über der Stirn waren ganz viele Haare, und links dagegen hatte er so etwas wie eine riesige Geheimratsecke. Da sah man ganz viel Stirn. Er sah ganz schief aus dadurch. Und dann hatte er noch Kotletten, lange, dunkle Kotletten, und Locken im Nacken.“
„Aha“, sagte Verena wieder.
„Sie glauben mir nicht?“
„Doch natürlich, Frau Zöllner. Ich wundere mich nur, dass Sie das alles erkannt haben können bei über zwanzig Metern Entfernung.“
„Vor dem Hotel war es hell beleuchtet!“, gab die alte Frau beleidigt zurück. „Und ich habe gute Gläser! Falls es Sie noch interessiert, was ja eigentlich Ihre Pflicht sein müsste – das ist noch nicht alles, woran ich mich erinnere.“
Verena schwieg jetzt lieber und betrachtete gedankenverloren den leeren Stuhl ihres Kollegen Dennis.
„Er hatte ein Gesicht wie ein Affe.“
„Wie ein Affe? Wie meinen Sie das?“
„Wie ein Neandertaler eben, so grob, und sehr starke, dunkle Augenbrauen. Wissen Sie was, Frau Mayer, ich habe mich direkt gegruselt an dem Abend, vermutlich habe ich ihn mir deshalb so deutlich eingeprägt.“
„Danke, Frau Zöllner“, sagte Verena genervt und atmete tief durch. „Ich werde es mir notieren und rufe Sie wegen des Phantombildes an.“
Frau Zöllner beteuerte, dass sie ihr selbstverständlich jederzeit zur Verfügung stehen würde, aber an ihrer Stimme ließ sich erkennen, dass sie beleidigt war, weil sie sich nicht ernst genommen fühlte.
Dann legte sie auf.
„Noch mehr solche Zeugen, und ich drehe durch!“, fluchte Verena. Es ärgerte sie, dass ihre Zigarette im Ascher herunter gebrannt war, ohne dass sie etwas davon gehabt hatte. Sie seufzte, steckte sich eine neue an und sah zur Übersichtswand rüber. Es war wie verhext. War nichts los, war Dennis immer da. Dann saß er sinnlos in seinem Schreibtischstuhl herum, drehte Däumchen und nervte sie mit seinen Krankengeschichten. Aber nie, einfach niemals, war er zur Stelle, wenn ein wirklich verzwickter Fall anstand! Musste er ausgerechnet jetzt schon wieder im Urlaub sein? Erst in der nächsten Woche würde er wiederkommen. Dabei hätte sie ihn jetzt so gebraucht. Ihr fehlte das Gespräch. Wenn sie mit Dennis die Fakten erörterte, kam sie in der Regel schneller auf den springenden Punkt.
„Also“, sagte sie laut in Richtung des leeren Arbeitsplatzes: „Hör zu, Dennis. Wir haben diesen toten Randolf, über dessen Ableben bestimmt einige Leute erleichtert sein werden. Randolf. Was ist das überhaupt für ein beknackter Vorname?“ Sie ging zur Übersichtswand und pinnte ein Foto der Leiche in die Mitte. „Und dann haben wir diesen dubiosen Affenmenschen, der laut Aussage unserer penetranten Frau Zöllner mit dem Opfer am Tatort gesehen wurde, wenige Stunden vor der Tat.“
Sie schrieb: „Verdächtiger 1: Affe“ auf einen Zettel und pinnte ihn an. „Dann haben wir die liebe Frau Zöllner selbst, die vorgibt, eine Zeugin zu sein, die wahrscheinlich auch eine Zeugin ist, aber wer weiß? Man durfte nichts ausschließen. Sie war Lehrerin. Vielleicht war Randolf Bock ein Schüler von ihr und sie hat noch eine alte Rechnung mit ihm offen? Ich hasse Lehrerinnen!“ Mit einem Gefühl des Triumphes, das nicht wenig mit lang zurückliegenden Grundschulerfahrungen zu tun hatte, pinnte sie einen Zettel an, auf dem „Verdächtige 2: Frau Zöllner“ stand.
„Drittens“, fuhr sie fort, „gibt es da Randolf Bocks Kollegen, Paul Kamm, mit dem er offensichtlich um eine Frau konkurrierte. Und viertens haben wir die Frau selbst.“ Sie schrieb „Verdächtiger 3: Paul Kamm“ und „Verdächtige 4: Freundin, unbekannt“ auf zwei separate Zettel und heftete diese ebenfalls an die Pinnwand.
„Macht insgesamt vier Verdächtige bis hierhin.“, schloss sie ihr Resümé ab.
Dann trat sie zurück und betrachtete die Pinnwand wie ein Maler sein Kunstwerk. Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Natürlich konnte dieser Randolf Bock bei seinem Lebenswandel jede Menge Feinde gehabt haben.  Haase war gerade in der Wohngegend des Opfers unterwegs und hatte ihr schon einige unappetitliche Details gemailt. Bock hatte es zum Beispiel geliebt, mit seinem Motorrad auf den Bürgersteig auszuscheren und die Passanten zu Tode zu erschrecken. Es hatte zwei tote Hunde und einige verletzte Kinder gegeben. Man hatte ihm aber nie etwas nachweisen können, vermutlich hatte er immer sehr darauf geachtet, dass gerade keine Polizei in der Nähe war, wenn er seine üblen Späße trieb. Aber war das ein Grund, ihn umzubringen? Wer waren die Hundebesitzer gewesen? Hundebesitzer waren ja manchmal merkwürdige Leute. Oder die Eltern der verletzten Kinder? Waren die Kinder schwer verletzt gewesen? Man musste das recherchieren. Sie machte eine Notiz an der Tafel.
„Verdammt, Dennis, so kommen wir nicht weiter.“ Ihr Blick fiel auf die Akte der Computerabteilung. Sie setzte sich und vertiefte sich in den Bericht. Sie schmunzelte über eine der Mailadressen des Opfers: ‚drache-von-tarascon‘. „Das wärst du wohl gern gewesen“, murmelte sie. Interessant war eine der Mails, die Randolf Bock zwei Wochen vor seinem Tod erhalten hatte:
Sie haben Interesse an  MALER AUF DEM WEG NACH TARASCON signalisiert. Kostenpunkt 3 Mill. Dollar. Kontaktieren Sie mich.‘ Es folgte eine lange Telefonnummer. Ein Name fehlte. Unter dem Mailausdruck gab es eine Notiz der Computerfachleute: ‚Telefonnummer von Konrad Bessi, Bariloche, Argentinien‘.
Argentinien? Was sollte das denn? Wer oder was war der MALER AUF DEM WEG NACH TARASCON? Das musste sie googeln. Und warum tauchte zweimal Tarascon auf? Das passte doch alles nicht zusammen. Was sollte ein Typ wie Randolf Bock, der auf dem Bau gearbeitet und sich, wie man sah, ziemlich häufig auf zwielichtigen Sexseiten im Netz herumgetrieben hatte, mit Argentinien zu tun haben? Sie blätterte in der Akte. Interessant. Auch Bock hatte MALER AUF DEM WEG NACH TARASCON gegoogelt. Am selben Tag, an dem er die Mail erhalten hatte. Sie tippte es ein und fand schnell heraus, dass es sich dabei um ein verschwundenes Bild von Van-Gogh handelte. Es war 1939 den jüdischen Eigentümern entwendet, auf einer Ausstellung entarteter Kunst in Berlin gezeigt und hinterher im Magdeburger Schloss versteckt worden. Nach dem Krieg war es verschwunden. Existierte das Bild also noch? Warum aber sollte Bock ein solches Bild kaufen? Das war kein Kunstinteressierter! Der hatte Motorräder und Sex im Kopf, aber keine Bilder! In seiner Wohnung hatte es nicht ein einziges Bild an den Wänden gegeben oder sonst etwas, das auch nur im Entferntesten auf irgendwelches Kunstinteresse hätte schließen lassen. Und woher sollte ausgerechnet dieser Mensch, dessen Konto immer haarscharf am unteren Limit des Dispo herumschrammte, drei Millionen Dollar nehmen?
„Dennoch,“ dachte sie laut nach, „auch dieser Konrad Bessi könnte ein Verdächtiger sein. Man müßte zumindest mal recherchieren, ob er sich zur Tatzeit in Deutschland aufgehalten hatte.“ Auf einem weiteren Zettel hielt sie fest: „Verdächtiger 5: Konrad Bessi, Argentinier“ und fügte ihn ihrem Kunstwerk hinzu. 
Das wurde ja immer unübersichtlicher.
Die Tür ging auf und Ralf von der Spusi trat ein.
„Na, dein Kollege wieder mal krank?“
„Im Urlaub.“
„Du Arme!“
Ralf versuchte schon seit zwei Jahren, sie anzubaggern. Er war ein netter Kerl, aber sie stand nicht auf Männer, die jünger waren als sie.
„Wie haben Fingerabdrücke“, sagte er und legte die Objektivkappe auf ihren Schreibtisch, die vor Bocks Parterrefenster, in der Hellersdorfer Strasse 488, gefunden worden war. „Hier, schöne, saubere Abdrücke. Besser geht’s gar nicht. Auf dem glatten Material wie aus dem Lehrbuch. Siehst du? Sogar von beiden Händen.“
Wie ein Schüler, der seiner Lehrerin eine Freude machen möchte, blätterte er einige vergrößerte Ausdrucke mit Fingerabdrücken vor ihr hin. „Aber leider – ich hab’s schon durchlaufen lassen – Fehlanzeige. Jedenfalls nichts in der Kripo-Datei.“
„Ach, Ralf, das wäre’ doch gar nicht dein Job gewesen.“
Er grinste sie schief an.
„Trotzdem danke.“
„Gern. Ich hätte Dir viel lieber einen anständigen Verdächtigen präsentiert.“
„Nett von dir. Aber wir wissen ja noch gar nicht, ob diese Objektivkappe überhaupt was damit zu tun hat. Die kann irgendjemand einfach da unterm Fenster verloren haben …“
„Stimmt.“ Er schaute zur Pinnwand. „Kommst du denn weiter?“ Stirnrunzelnd betrachtete er die Zettel. „Äh? Du verdächtigst einen Affen?!“
„Nein, keinen Affen“, sagte Verena, stand auf und schob Ralf sanft zur Tür.
„Wenn Du mich brauchst …“, murmelte er.
„Danke.“
„Und meine Einladung zum Essen steht noch …“
„Danke Ralf, ich muss jetzt wirklich weitermachen.“
Verena stand vor ihrem Schreibtisch und biss sich auf die Lippe. Warum wurde sie immer von Männern angebaggert, die sie nicht die Bohne interessierten?
Die Objektivkappe lag da wie ein Vorwurf. Ralf war ein zuverlässiger Typ. Wenn er sagte, dass er die Fingerabdrücke abgeglichen und nichts gefunden hatte, stimmte das. Schade, sie hatte solche Hoffnungen in diese blöde Objektivkappe gesetzt. Irgendetwas in ihr weigerte sich, die runde Plastikscheibe in dem Fach verschwinden zu lassen, in dem die unergiebigen Fundstücke lagen.  So schöne Fingerabdrücke! Und zu nichts nütze!
Sie wanderte durchs Büro. Sie wusste zu wenig von diesem Bock. Der hatte bestimmt auch noch ganz andere Seiten gehabt. Ein unangenehmer Typ war er gewesen. Aber wem hatte er besonders übel mitgespielt? Man musste sich noch einmal unter seinen Arbeitskollegen umhören und die Freundin finden. Vielleicht wußte sie mehr. Vor allem aber mußte man Paul Kamm noch einmal verhören. Was war am Tag seines Todes genau passiert? Lebten seine Eltern noch? Hatte er Geschwister? Und warum Argentinien …?

Plötzlich hatte sie eine Idee. Eine ihrer Kolleginnen hatte gerade in der vorletzten Woche einen Riesentreffer gelandet, nur weil sie einen Gesichtsabgleich im Archiv einer ganz anderen Abteilung gemacht hatte. Die Kollegen hatten sie dafür ausgelacht und gespöttelt, sie habe wohl nichts zu tun, dass sie dort suche, wo man gar nichts finden könne. Und dann war der Volltreffer gekommen. – Wenn sie nun einen Abgleich mit den Dateien der Einreisebehörden beantragen würde? Zum Beispiel mit den Einreisen aus Argentinien in den letzten vier Wochen?
So absurd es ihr vorkam, aber zum ersten Mal bei diesem Fall hatte sie dieses Kribbeln im Bauch, das eigentlich immer dann auftauchte, wenn sie die richtige Fährte witterte. Was soll’s, dachte sie. Ich versuch’s einfach. Schaden kann es schließlich nicht.
Nach einigen Telefonaten mit dem Zoll, mit Interpool und ihrem Chef hatte sie schließlich die richtige Stelle gefunden, an die sie den Abdruck schicken konnte.
Zwei Stunden später hätte Verena gern eine Flasche Rotwein im Schreibtisch gehabt. Genial. Sie war einfach genial! Vor ihr lagen zwei Ausdrucke, einer vom Flughafen, daneben der von Ralf. Volltreffer. Erstaunlicher Weise gehörten die Fingerabdrücke zu keinem der bereits identifizierten Verdächtigen, insbesondere nicht, wie sie es am ehesten vermutet hätte, zu dem Argentinier Konrad Bessi. Aber immerhin gehörten die Abdrücke zu einer identifizierten Person. 
Immer wieder las sie die Mail der Kollegen: ‚Ari Kelch, 62, wohnhaft Bariloche, Argentinien, eingereist am 04.09.2011, um 18.32 Uhr, Berlin-Tegel.“
Verena schrieb den Namen mit der Ergänzung: „Verdächtiger 6“ auf einen Zettel und heftete ihn schwungvoll an die Pinnwand.
„So!“, sagte sie. „Feierabend.“ Plötzlich war sie hundemüde und merkte, dass sie erheblichen Hunger hatte. Sie sah auf die Uhr, es war kurz nach zehn. Und im selben Moment fiel ihr ein, dass sie ja heute tagsüber hatte einkaufen wollen. In ihrem Kühlschrank zu Hause war gähnende Leere. „Mist!“, fluchte sie. Könnte es nicht mal jemanden geben, der sie zum Essen einlud und mit dem sie Spaß hätte, essen zu gehen?


Dienstag, 13. Dezember 2011

2. Kapitel: Der Irrtum

Konrad Bessi stand vor seinem Badezimmerspiegel und gab seinem Äußeren den letzten Feinschliff. Etwas Gel in die kurzen hellbraunen Haare, etwas Puder auf die schmale Nase, etwas Kajalstift unter die blauen Augen.
Während er seine schmalen Lippen mit Vanillebalsam betupfte, dachte er darüber nach, wie er nach dem Berliner Zwischenfall weiter vorgehen sollte. Die Sache passte überhaupt nicht in Konrads Pläne. Seine Geldsorgen waren nun noch größer, da er Hans Müller bezahlen musste, und das Bild war immer noch nicht verkauft.
Er rückte seine Fliege zurecht und ging ins Schlafzimmer, um sein Jackett zu holen. Dort hielt er inne und warf einen verärgerten Blick auf das Gemälde über seinem Bett. Es zeigte einen Wanderer mit Strohhut und blauem Arbeitsanzug, der in gleißender Sonne über Feldwege spazierte und nur von seinem eigenen Schatten begleitet wurde.
In der Schlichtheit der japanischen Zimmereinrichtung und des matten Lichtes sah das Bild gar nicht so besonders aus, aber sein Schöpfer und seine Geschichte machten es mindestens acht Millionen Dollar wert, handelte es sich doch um einen echten Vincent Van- Gogh. Das Bild trug den Titel „Maler auf dem Weg nach Tarascon“ und war ein Erbstück seines Großvaters, der es, dies war Konrad bewusst, im Krieg aus dem Magdeburger Schloss gestohlen und illegal mit nach Argentinien genommen hatte.
Eigentlich hatte Konrad das Bild niemals verkaufen wollen. Zu verbunden fühlte er sich mit dem einsamen Wanderer, der auf der Suche nach einer Heimat und nach künstlerischem Erfolg war. Aber Geldprobleme zwangen ihn dazu. Seine Erbschaft neigte sich dem Ende zu, und er lebte auf großem Fuß. Erste Spielschulden hatten sich bereits angehäuft. Das Haus, die Partys, seine Liebhaber – das alles musste und wollte finanziert werden. Sein Vater hatte ihn Zeit seines Lebens zu Dingen gezwungen, die er nicht tun wollte: ein Wirtschaftsstudium und heterosexuelle Beziehungen. Am Tag als sein Vater starb, vor vier Jahren, schwor sich Konrad, dass er in der Zukunft nur noch Dinge tun wollte, die ihm Spaß machten: Theater und Black Jack spielen, Partys feiern und Partner wechseln. Noch hatte niemand Verdacht geschöpft, dass er pleite war, aber es war nur noch eine Frage der Zeit. Wenn er das Bild wenigstens für drei Millionen Dollar auf dem Schwarzmarkt verkaufen könnte, wären all seine Geldprobleme mit einem Schlag gelöst. Der erste Versuch war leider fehlgeschlagen, aber vielleicht tat sich bald eine zweite Chance auf.
Konrad zog sein Jackett an und ergriff die Autoschlüssel. Er schaltete die Alarmanlage des Hauses an und schritt zügig zur Garage, die er kurz darauf in einem weinroten Jaguar verließ.
Seitdem er vor ein paar Jahren zum ersten Mal Deutschland besucht hatte, war er immer noch überrascht, wie sehr seine Strasse den Strassen einer bayrischen Kleinstadt ähnelte. Er war hier in Argentinien, in Bariloche, aufgewachsen und hatte mit seinem Vater immer Deutsch geredet. Aber Besuche in Deutschland gab es nur den einen. Trotz seiner geringen Verbundenheit zu Deutschland, fühlte er sich zu deutsch um argentinisch zu sein und zu argentinisch, um deutsch zu sein. Dies ließ ihn vorwiegend in der Gegenwart leben. Er konnte sich weder mit argentinischer noch mit deutscher Geschichte identifizieren. Ja, es muss einen Grund gegeben haben, warum sein Vater und dessen benachbarte Freunde nach dem Krieg nicht in Deutschland bleiben konnten, und warum ein jeder von ihnen ziemlich wohlhabend war, aber darüber hatte niemand von ihnen jemals ein Wort verloren. Konrad war all dies egal. Besonders das Leiden anderer Menschen war ihm egal, weil er fand, dass er selbst genug gelitten hatte. In der Schule war er wegen seines mädchenhaften Aussehens gehänselt und ausgestoßen worden. Mit 14 hatte er seine Mutter an einen Reitunfall verloren. 
Konrads Freund Martin, der ihm in Jeans und mit nassen Haaren die Tür aufmachte, begrüßte Konrad mit einem Kuss auf die Wange und den Worten:
„Ich habe eine Überraschung für Dich. Du erhältst ein Vorsprechen für die Rolle des Revisors von Gogol. Das ist Deine Chance auf eine Hauptrolle. Nächste Woche Mittwoch, um 11 Uhr, im Theater. Was sagst du? Freust du dich?“
Konrad war verblüfft.
„Was? Heiliger Schwan. Wie hast du denn das gemacht? Das ist großartig!“ Konrad klatschte sich vor Freude in die Hände.
„Für dich tue ich doch alles!“, antwortete Martin schelmig und zupfte Konrad an der Fliege. „Ich habe meine Beziehungen als Bühnenschreiner für dich spielen lassen.“ Er lächelte, dann forderte er Konrad auf:
„Komm mit ins Bad. Ich muss mich noch fertig machen.“
Konrad folgte Martin ins Bad und sah zu, wie sich dieser frisierte. Einen Moment zögerte er, dann sprach er aus, was ihm auf der Seele lag:
„Du sag mal, der Kaufinteressent, den du mir letztens vermittelt hast... wie viel wusstest du von dem? Ich habe ihn kontaktiert, aber wie sich herausstellte, war er nicht am Kauf interessiert.“ Konrad wählte seine Worte mit Bedacht.
„Was?“ Martin wandte seinen Blick Konrad zu und sah ihn mit erstaunten, braunen Augen an. „Das kann nicht sein. Wie ich dir bereits gesagt hatte, habe ich den Namen von einem Freund, der Kunst- Auktionen veranstaltet. Er hatte mir den Namen sehr diskret zugesteckt und nur gesagt, dass es ein deutschsprachiger Kunstsammler aus Südfrankreich sei. In Tarascon lebe er wohl. Daher auch die komische Email-Adresse: drache-von-tarascon@mail.com. Was ist denn passiert? Hast du mit ihm gesprochen?“
„Nun ja...“ erwiderte Konrad vorsichtig, „er wollte den Kauf nicht. Und dummer Weise hatte ich ihm in meiner Mail sensible Daten mitgeliefert, weil ich annahm, er käme aus vertrauenswürdiger Quelle.“
„Oh, das tut mir leid, Konrad. Ich frage meinen Freund noch mal, was er sich dabei gedacht hat, uns diesen Namen zu geben. Das ist ja furchtbar!“
„Nein, frag‘ lieber nicht! Ich möchte nicht, dass die Sache große Wellen schlägt. Lass uns die Sache unter den Teppich kehren. Es ist ja nichts weiter passiert.“
Konrad versuchte bei dem Abendessen, zu dem er Martin eingeladen hatte, lebendig und fröhlich zu wirken. Nur leider war ihm nicht so zumute. Das Fleisch schmeckte trocken, der Wein fade. Zwar ging er nach dem Essen noch für eine Stunde mit zu Martin, aber selbst dieser schmeckte an diesem Abend nicht so gut wie sonst.
Wieder zu Hause angekommen, schlug Konrad seinen Laptop auf und schaute kurz in seine Mails.
Da lag eine Mail in seinem Postfach mit dem Absender: drache_von_tarascon@mail.com. Als er sie öffnete, las er die Worte: „Warum melden Sie sich nicht bei mir? Ich bin immer noch an dem Bild interessiert." Konrad schaute auf die Unterstriche und begriff, dass er beim ersten Mal die falsche Person angeschrieben hatte. Was für ein fataler Irrtum!