Sonntag, 18. Dezember 2011

4. Kapitel : Die verräterische Objektivkappe

Gleich zu Anbeginn des nächsten Arbeitstages machte Verena den neuen Verdächtigen, Ari Kelch, in einem günstigen Hotel im Berliner Stadtbezirk Mitte ausfindig. Er hatte dort vor drei Wochen, am Tag seiner Ankunft aus Argentinien, ein Zimmer gemietet und dies auch seither bewohnt. Dieser Umstand machte Verena stutzig. Entweder war Herr Kelch besonders abgebrüht oder aber er fühlte sich auffallend sicher. Warum sonst sollte jemand, der einen Mord begangen hat, sich so leicht finden lassen und nicht die geringsten Anzeichen liefern, seine Spuren verwischen oder flüchten zu wollen? Warum war er immer noch in Berlin und nicht gleich nach der "Tat", sofern er sie begangen hatte, abgereist?
Sie fragte sich, ob es eine gute Idee war, allein zum Hotel zu fahren, hatte aber keine Wahl. Bis Dennis aus dem Urlaub zurückkehrte, musste sie allein zurechtkommen. Kollege Haase unterstützte sie zwar punktuell, gehörte aber eigentlich zum Innendienst und hatte viele andere Aufgaben. Bis auf ihn gab es aufgrund von Personalmangel keine weitere Unterstützung.
Verena ärgerte sich zunehmend, dass sie sich andauernd und allein Gefahren aussetzen musste, weil ihr Partner entweder krank oder im Urlaub war. Sie zündete sich gestresst eine Zigarette an, während sie im Auto saß und durch den Stau navigierte. Es ging so gut wie überhaupt nicht vorwärts.
In der Konsole zwischen Fahrer- und Beifahrersitz lagen Entwöhnungstabletten. ‚Ja, den Gedanken ans Aufhören hatte sie schon gehabt…!’ Verena warf sie wütend beiseite.
"Gott, bin ich sauer", entfuhr es ihr. "Auf Dennis, auf meinen Ex-Mann, auf Pestfliegen wie Ralf oder Frau Zöllner, auf den Stau..., auf mich selbst. Was für ein Dreckstag!"
Im Hotel angekommen, war es zehn Uhr. Sie wies sich an der Hotelrezeption als Kriminalbeamtin aus und lies sich die Zimmernummer von Ari Kelch geben. Dann näherte sie sich mit bestimmten Schritten seiner Zimmertür und klopfte.
"Ja?", ertönte eine freundlich, ältere Männerstimme.
"Verena Mayer-Galotti von der Kriminalpolizei. Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen. Würden Sie bitte die Tür öffnen?", forderte sie in barschem Ton.
"Sofort.", antwortet die Stimme erneut. Als sich das Schloss drehte, wich Verena einen Schritt beiseite. Im Türrahmen erschien ein schlanker, grauhaariger Mann, der sich gerade seine Lesebrille abnahm. Er trug eine schwarze Anzughose und ein beigefarbenes, an den Ärmeln leicht hochgekrempeltes, Hemd. Seine wässrig blauen Augen blickten Verena erwartungsvoll aber ruhig an.
"Sind Sie Herr Ari Kelch?", fragte Verena.
"Der bin ich. Worum geht es denn, wenn ich fragen darf?", erwiderte er in akzentfreiem Deutsch.
"Um eine Mordermittlung und Ihre Spuren am Tatort.", antwortete Verena.
"Oh!", stammelte Ari Kelch. "Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Aber kommen Sie doch bitte herein."
"Es handelt sich bisher lediglich um eine Befragung.", antwortete Verena und betrat das Hotelzimmer. Ohne ihre Sachen abzulegen, setzte sie sich auf einen Schreibtischstuhl und wartete, bis Ari Kelch auf dem einzigen Sessel des Zimmers Platz genommen hatte. Im Zimmer war es angenehm ruhig. Herr Kelch strahlte Ruhe aus. Sie wurde sich bewusst, dass der Stress und der Ärger, die sie noch vor wenigen Minuten empfand, merklich nachließen. Langsam zog sie zwei Fotos aus der Tasche und gab sie ihm.
"Das erste Foto zeigt die Objektivkappe einer Leica- Kamera, auf der Ihre Fingerabdrücke gefunden wurden. Das zweite Foto zeigt den Ort, an dem die Kappe lag, und zwar vor dem Fenster der Hellersdorfer Strasse 488. In genau dieser Wohnung wohnte ein Mann, der gestern ermordet wurde. Würden Sie bitte bestätigen, dass die Kappe von Ihnen stammt und erklären, was Sie an diesem Ort zu suchen hatten?"
Herr Kelch schien überrascht. Wenn er die Überraschung spielte, hatte er seine Berufung verpasst, nämlich die, Schauspieler zu werden.
"Es stimmt. Dies ist meine Objektivkappe. Ich habe sie schon vermisst. Allerdings habe ich die Kappe schon vor zwei Wochen verloren. Ich bin Fotograf und komme aus Argentinien. Ich bin in Berlin, weil ich an einem Reiseführer über Berlin arbeite. Vor zwei Wochen führte mich mein Weg in den Stadbezirk Hellersdorf, weil ich an der Hauswand der Alice Salomon Hochschule ein Gedicht abfotografieren wollte. Da bin ich etwas im Bezirk herumspaziert und habe auch an anderen Stellen Fotos gemacht. Irgendwo habe ich die Kappe verloren. Aber wie gesagt, an die genaue Stelle erinnere ich mich nicht. Ich habe sie einen Tag später noch mal gesucht aber nicht gefunden."
"Seit wann sind Sie in Deutschland und wie lange gedenken Sie zu bleiben?", fragte Verena.
"Ich bin vor genau drei Wochen, am 04.09., eingereist und bleibe noch weitere drei Tage.", gab Ari Kelch bekannt. Seine Aussage deckte sich mit den Informationen, die Verena bereits vorlagen.
"Haben Sie einen Zeugen, der bestätigen kann, was Sie gerade sagten? Oder haben Sie Fotos, an deren Datum sich ablesen lässt, wann sie gemacht wurden?", frage Verena.
"Leider nein. Meine Kamera ist ein älteres Modell und hält noch kein Datum fest. Ich war allein unterwegs."
"Dann muss ich Sie leider bitten, mit Ihrer Abreise zu warten, bis unsere Untersuchungen abgeschlossen sind. Bis auf weiteres liegt ein Tatbestand der Verdächtigung vor."
"Nehmen Sie mich jetzt etwa fest?" fragte Herr Kelch mit aufgeregter Stimme.
"Nein. Ich möchte nur, dass Sie in der Stadt bleiben.", erwiderte Verena.
Herr Kelch atmete tief durch, erleichtert.
"Ich lasse Ihnen meine Karte da, falls Ihnen noch etwas zu Ihrer Entlastung einfällt. Umgekehrt werde ich mich sofort bei Ihnen melden, wenn sich die Umstände des Falles ändern."
Herr Kelch nickte.
"Ich verstehe.", tat er kund.
Seine Stimme erweckte Sympathie.
"Es tut mir leid für die Umstände. Falls Sie durch den verlängerten Aufenthalt finanzielle Probleme oder Einbußen haben, lassen Sie es mich bitte wissen. Im Falle Ihrer nachgewiesenen Unschuld kümmere ich mich um eine Entschädigung." Verena war über ihren eigenen Vorschlag überrascht, aber noch mehr über ihre Stimme, die nahezu sanft klang.
"Ich bin bereits Rentner und mache den Reiseführer nur zum Spaß. Es macht mir nichts aus, einige weitere Tage hier zu bleiben. Meine Eltern kommen aus Berlin und sind nach dem Krieg, den sie als Juden nur durch ein Wunder überlebten, nach Argentinien ausgewandert. Ich wandle gern auf den Spuren meiner Herkunft."
"Wie haben Ihre Eltern denn überlebt?", fragte Verena mit Interesse.
"Das weiß ich nicht. Sie haben es nie jemandem erzählt. Auch mir nicht. Und jetzt sind sie schon seit einigen Jahren tot."
Verena nickte. Sie fand, dass der Mann, der ihr gegenüber saß, höchstens wie 50 aussah und einen sportlichen, vitalen Eindruck machte. Er sah keineswegs wie ein Rentner von 62 Jahren aus. Seine drahtigen, gepflegten Hände spielten noch immer mit seiner Lesebrille.
Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie weiter fragen sollte, aber zum Gehen war ihr irgendwie nicht zumute. Appetit hatte sie plötzlich. Ari Kelch blickte sie aufmerksam an. Sie senkte ihren Blick, etwas beschämt. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Fotos, den sie schnell zur Hand nahm und darin umherblätterte, um die peinliche Pause zu überspielen.
"Sind dies die Fotos, die Sie bisher in Berlin gemacht haben?", fragte sie lebhaft.
"Ja.", gab Ari Kelch zurück und sprang plötzlich auf, stürzte hektisch auf den Schreibtisch zu und versuchte, die Fotos an sich zu reißen.
Aber es war zu spät. Verena hatte bereits gefunden, was Ari Kelch verbergen wollte: ein Foto von Randolf Bock in seiner Wohnung in der Hellersdorfer Strasse, fotografiert von außen durchs Fenster.
Verena erhob sich. Ari Kelch fror auf der Stelle ein. Enttäuschung war in Verenas Gesicht geschrieben. Bedauern im Gesicht ihres Gegenübers.
"Ich muss Sie bitten mit auf das Revier zu kommen. Ich nehme Sie hiermit aufgrund des dringenden Tatverdachts, den Mord an Randolf Bock begangen zu haben, fest.", brachte sie hervor und legte Ari Kelch Handschellen an.


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