Sonntag, 12. Februar 2012

22. Kapitel: Berlin im reinen Frieden


Sie stieg ins Flugzeug mit dem etwas unwirklichen Gefühl im Bezug auf die Realität, welches Menschen, die dem Tod begegnet sind, manchmal haben. Sie staunte, dass es das alles noch gab, dass die Menschen um sie herum ihre Koffer hinter sich herzogen, dass sie eincheckten in der Gewissheit, dort anzukommen, wo sie hin wollten, dass sie sich nicht wunderten über den strahlend blauen Himmel, dass sie ihr Gepäck lachend im Flugzeug über sich verstauten, sich anschnallten, ihren Kaffee tranken, über das Wetter redeten …

In Berlin war der Himmel wieder grau. Fast erleichterte sie das.
Gleich am Flughafen kaufte sie sich Zigaretten und rauchte gierig. Dann fuhr sie zur Dienststelle.
Dennis begrüßte sie überschwänglich: „Mensch, Verena! Eine große Sache, was? Da können wir ja froh sein, dass du heil wieder da bist!“
„Ja.“
„Stimmt es, dass du persönlich diesen Altnazi erschossen hast?“
„Wo hast du das denn her?“
„Ach, wir haben so ‘n paar komische Berichte von den französischen Kollegen bekommen, aus denen wir nicht schlau wurden. Ziemlich durcheinander alles. Vielleicht liegts auch an der Übersetzung.“
Im Grunde staunte sie, dass Dennis überhaupt da war. Hatte der etwa den Laden während ihrer Abwesenheit allein geschmissen? Das grenzte ja an ein Wunder.
„Zum Beispiel haben die geschrieben, dass sie dort, ganz in der Nähe von diesem Schloss, wo ihr den Konrad Bessi verhaftet habt, in einem verlassenen Auto Reisepässe von einem Ari Kelch und einer Martha Charms gefunden haben. Sie haben ne Fahndung nach denen rausgegeben. Und jetzt kommt das Schärfste: da stellt sich heraus, dass es die beiden gar nicht gibt. Was sagst Du dazu?“
Das war typisch Dennis. Er hatte sich also noch nicht einmal die Mühe gemacht, in die Akten zu schauen, während sie weg war. Dann hätte er nämlich gewusst, dass es mindestens Ari Kelch sehr wohl gab, dass er sogar mal bei ihnen im Verhörraum gesessen hatte.
„Ich setz mich gleich hin“, meinte sie, „und schreibe meine Version auf. Vielleicht wird ja dann einiges klarer.“ Sie grinste. „Nun starre mich nicht an wie ein Weltwunder, Dennis. Was ist denn überhaupt?“
„Stimmt es, dass du diesen Bessi eigenhändig aus den Flammen befreit hast? Dass du da wirklich reingerannt bist?“
„Du kannst morgen meinen Bericht lesen, okay? – Und was war hier so los? Bei euch? “
„Tote Hose. Gar nichts passiert. Berlin im reinen Frieden. War mir auch recht so, ehrlich. Du sag mal, man munkelt, du bist an einen von der Mossad geraten? Stimmt das?“
„Blödsinn. Da will sich wohl einer wichtigmachen. Wie kommst du denn darauf?“
„Ach, nur so. Die Franzosen vermuten das. Ich habs auch nicht geglaubt.“
Dennis überschlug sich in Liebenswürdigkeiten. Er kochte ihr sogar einen Kaffe, während Verena ihren Abschlussbericht tippte.

Abends in ihrer Wohnung kam es ihr vor, als sei sie monatelang fort gewesen. Angezogen legte sie sich aufs Bett und sann darüber nach, in welch ein gewaltiges Räderwerk sie da hineingeraten war, und wie klein und schäbig sich ihre nächsten Fälle vermutlich dagegen ausnehmen würden... Und dann all diese Routine … Berichte schreiben … Zeugen verhören … und dann Dennis, der nur solange erschien, wie nichts vorfiel … und dann Ralf … was waren das eigentlich für Männer – gegen Ari … aber Ari gab es nicht mehr, Ari Kelch hatte es nie gegeben… und dann fiel sie in einen bleiernen Schlaf …

Oh, nein, nicht schon wieder. Ari hatte erneut die Weingläser umgeschmissen, und ein weiteres Mal vernahm sie das nervtötende Geräusch zerbrechenden Glases.
„Ari, jetzt hör endlich auf“, sagte sie.
„Ja, ja, schon gut“, sagte er, kam näher und begann an ihrem Ohrläppchen zu knabbern.
Normalerweise hätte sie Ari schroff von sich gewiesen, schließlich war er unkorrekt mit ihr umgegangen. Sie versuchte sich zu besinnen, was er getan hatte, sah ihm in die Augen, doch es fiel ihr nicht mehr ein. Und zu ihrem eigenen Erstaunen ließ sie Ari gewähren und genoss seine unerwartete Zärtlichkeit. Endlich, dachte sie, endlich habe ich einen Mann gefunden, der mir ebenbürtig ist.
Doch da passierte es schon wieder, Glas klirrte und klirrte.
Und irgendetwas an diesem Geräusch irritierte sie zusätzlich, denn das Klirren klang doch merkwürdig schrill.

Da erwachte sie, das Klirren war kein Rotweinglas und auch Ari war nicht in ihrer Nähe. Es war das Telefon, das sie tief aus ihren Träumen riss.
„Ja, bitte?!“, murmelte sie in den Hörer.
„Frau Mayer-Galotti, Sie müssen sofort kommen. Es hat einen Vorfall in Hellersdorf gegeben. Eine männliche Leiche, direkt vor der Alice-Salomon-Hochschule. Wissen Sie, wo das ist?“
„Ja“, brummte Verena. „Ich komme. Würden Sie bitte meinen Kollegen Dennis Heller auch informieren?“
„Tut mir leid, Herr Heller ist seit heute im Urlaub.“ 

ENDE

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21. Kapitel: Der Heimweg


Erst jetzt, als Verena allein war und die Spannung nachließ, spürte sie den Schmerz an Armen und Beinen. Beim Gang durchs Feuer hatte sie wohl doch mehr abbekommen, als gedacht. Ihre Haut schmerzte bedenklich, und sie merkte, wie ihre Sachen daran festklebten. Das war kein gutes Zeichen.
Noch während sie überlegte, ob es klüger wäre, in diesem Zustand zum Flughafen und von dort nach Deutschland zu kommen, oder noch hier in Frankreich einen Arzt aufzusuchen, hörte sie, wie der Motor eines Autos angelassen wurde. Blitzschnell registrierte ihr Gehirn, das es das Auto des Drachen war, dessen Scheinwerfer dort, unweit des Rollfeldes, aufblitzten, und rannte darauf zu.
Ari saß am Steuer, Martha neben ihm. Martha war sichtlich entnervt von Verenas Auftauchen, und funkelte sie böse an. Ari jedoch kurbelte sein Fenster herunter.
„Wieso nehmt ihr sein Auto?“, keuchte Verena.
„Unser hat kein Benzin mehr. Damit kommen wir nicht mehr weit“, entgegnete Ari.
Im selben Moment wurden Verena zwei Dinge klar: Ihr Leihauto stand irgendwo auf dem Acker und war vermutlich auch nicht mehr zu gebrauchen. Und: Ari war gerade dabei, für immer aus ihrem Leben zu verschwinden.
„Jetzt fahr endlich!“, knurrte Martha. „Jeden Moment ist die Polizei hier!“
„Ari“, sagte Verena so beherrscht wie möglich, „nehmt mich mit. In die nächste Stadt wenigstens. Ich muss zum Arzt.“
Martha protestierte heftig, es sei zu gefährlich, sie müssten so schnell wie möglich verschwinden und könnten „keinen Klotz am Bein“ gebrauchen.
In Verena kochte eine unglaubliche Wut auf Martha hoch, die dort so herrisch und wie selbstverständlich an Aris Seite saß und vermutlich auch weiterhin mit ihm zu tun haben würde, während sie selbst so brutal von ihm fortgerissen wurde. Sie biss die Zähne zusammen. Sie wollte sich keine Blöße geben.
„Los, steig ein“, sagte Ari.
Kaum saß sie, startete er und schweigend fuhren sie über das Rollfeld Richtung Straße.
Sie waren bereits ein gutes Stück auf der Straße unterwegs, als ihnen in der Ferne drei Polizeiwagen mit Blaulicht entgegen kamen. Verena war sofort klar, dass die französischen Kollegen Richtung Schloss fuhren, und auch, dass sie reichlich spät dran waren. Als hätten sie gar kein Interesse daran gehabt, zur rechten Zeit zu kommen. Sie überlegte, ob sie nicht halten und den Kollegen von der Landebahn, dem Privatjet und dem toten Drachen berichten müssten. Als hätte Martha ihre Gedanken erraten, zischte sie: „Unterstehe dich, denen irgendein Zeichen zu geben!“ Schweigend fuhren sie weiter. Erst als die Wagen vorbei waren, fügte Martha hinzu: „Im Übrigen: du hast uns beide natürlich nie getroffen. Aus welchem Grund sollte ich dir eigentlich vertrauen? Verdammt, Ari, es war falsch, sie mitzunehmen! Grundfalsch! Sie weiß zu viel!“
Ari schwieg und fuhr stur geradeaus. Die Spannung im Inneren des Wagens wurde immer unerträglicher. Verena hätte gern irgendetwas Raffiniertes gesagt, um die Situation zu entschärfen, doch ihr fiel nichts ein. Ihre verbrannte Haut, besonders an den Armen, schmerzte immer unerträglicher. Gegen ihren Willen drängten sich Bilder auf: Martha, die sich blitzschnell zu ihr umdrehte, ihr eine automatische Waffe vors Gesicht hielt, abdrückte. Ein Wagen, der kurz hielt. Eine Leiche ohne Gesicht, die in den Straßengraben rollte. Der Satz aus Marthas Mund: „Sie wusste zu viel.“ Aris stummes Nicken ...
All das, gepaart mit den Schmerzen, die kaum noch zu ertragen waren, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Verena war am Ende ihrer Kräfte. Sie konnte nicht mehr verhindern, dass sie wie Espenlaub zitterte.
„Ich vertraue ihr“, sagte Ari.
„Und ich nicht“, gab Martha zurück.
Verena, die hinter Ari saß, zitterte immer mehr. War das möglich? Die beiden dort vorne verhandelten gerade über Tod und Leben. Über ihr Leben! War das vor ihr tatsächlich der Mann, in dessen Armen sie sich noch vor wenigen Tagen so ganz zu Hause gefühlt hatte? Der, dem sie ihr Leben anvertraut hätte? Und jetzt – welch ein Widersinn – schien es tatsächlich in seiner Hand zu liegen. Wäre sie nur nicht in dieses Auto gestiegen!
Martha redete immer heftiger auf Ari ein, aber Verena verstand es nicht mehr, vermutlich war es Hebräisch. In ihr breitete sich, je länger Martha redete, immer mehr Panik aus, sie würde sterben, die beiden würden untertauchen, in ihre Heimat zurückkehren, falls sie überhaupt so etwas wie eine Heimat hatten, jedenfalls würden sie nie gefunden werden. Sie würden für den Mord am Drachen nie zur Rechenschaft gezogen werden. Und ein Mord war es gewesen. Der Mann hätte festgenommen werden müssen, dachte sie, und wusste natürlich gleichzeitig, dass ein über neunzigjähriger Altnazi bei einem ordentlichen Prozess nichts mehr zu befürchten hatte. Das Hinhalten, die Anwälte, die ärztlichen Atteste …
Mit einem barschen: „Schluss jetzt! Wir bringen sie ins Krankenhaus. Sie wird uns nicht verraten. Basta!“, beendete Ari Marthas Redeschwall.
Schlagartig war Schweigen zwischen ihnen. Ari lenkte das Auto sicher und schnell die leere Straße entlang durch die Nacht. Verena vermied es nach vorn zu sehen, um Marthas Augen im Rückspiegel nicht zu begegnen.
„Verdammt!“, stieß Martha plötzlich hervor. „Die Tasche! Wir haben die braune Tasche im Auto gelassen! Wie sollen wir denn jetzt …“
„Es ist alles okay“, sagte Ari.
„Aber die Pässe!“
„Ich hab genug andere dabei. Ari Kelch, Linda und Martha Charm gibt es ab sofort nicht mehr.“
Seine Worte versetzten Verena einen Stich. So einfach konnte man es sich also machen. Seinen Namen mal eben so löschen. Ja, Ari, dachte sie, für mich wird es deinen Namen aber weiterhin geben. Und er wird auch ein Gesicht haben. So schnell bin ich mit dem Löschen nicht.
In der Ferne sah sie die Lichter der Stadt auftauchen.
Da wandte sich Ari an sie. „Verena, ich möchte dich bitten, dir schon jetzt etwas auszudenken. Du wirst befragt werden. Du wirst einen Bericht verfassen müssen. Linda hast du natürlich in Frankreich nicht wieder getroffen. Die ist einfach verschwunden. Kein Problem. Aber was ist mit mir? Hast Du eine Idee?“
So habe ich mich noch nie in einem Menschen getäuscht, dachte Verena. Hätte sie mit ihm allein im Auto gesessen, jetzt wäre der Moment gewesen, ihm ihre Wut und ihr Verletztsein ins Gesicht zu schreien. Dass er sie benutzt hatte! Benutzt, um an Informationen zu kommen! Benutzt, schamlos belogen, für seine Zwecke! Aber neben ihm saß diese Frau, die offensichtlich kein Problem damit hatte, jemanden zu erschießen. Sie durfte sich jetzt keine Blöße geben, das konnte sie das Leben kosten.
Sie hatten Tarascon erreicht. Das Ortsschild löste Erleichterung in Verena aus. Am Straßenrand tauchten immer mehr Laternen auf, und Ari fuhr rasch durch die Straßen, als kenne er sich aus.
„Eine Idee?“, sagte Verena. „Nun, dass wir noch ins selbe Flugzeug gestiegen sind, kann ich kaum abstreiten. Das kann man nachprüfen. Aber – im Grunde bist du mir ja schon während des Fluges abhanden gekommen. Vielleicht bist du aus dem Flugzeug gefallen? Wie wäre das?“
„Das ist zwar witzig, aber doch recht unglaubwürdig, meine Liebe.“
Die Straßen waren hell erleuchtet. Verena sah, wie ein Kneipier seine Ladentür abschloss. Ein Stück weiter stand eine junge Frau in eindeutiger Wartehaltung am Straßenrand. Vereinzelte Nachschwärmer torkelten auf dem Heimweg den Bürgersteig entlang. 
Ari bog schwungvoll in eine größere Straße ein.
„Nenn mich nicht ‚meine Liebe‘!“
„Sorry.“
„Bist du denn noch als Ari Kelch aus dem Flugzeug gestiegen?“
„Ja, natürlich.“
„Aber ich habe dich nicht mehr gesehen, seit …“
„Das tut nichts zur Sache, Verena. Das führt jetzt zu weit. Wir sind gleich beim Krankenhaus. Also: wo hast du mich verloren?“
„Auf dem Flughafen natürlich. Du bist nur schnell Zigaretten holen gegangen. Und warst verschwunden. So verschwinden Männer doch, oder?“
„So ein Quatsch!“, fuhr Martha böse dazwischen. „Das ist ...“
„Das ist gut“, stellte Ari fest. „Das ist gut, weil es absurd ist. Und weil es einfach ist.“
Seine Stimme wurde weich. „Verena. Du warst großartig. Ich ziehe den Hut vor dir. Da vorn ist das Krankenhaus. Ich fahre jetzt seitlich ran und halte nur kurz. Steig dann bitte schnell aus.“
„In Ordnung. Ari, ich …“
„Und dies noch: auch wenn du es anders siehst, ich habe dich nicht benutzt. Leb wohl, Verena.“
Mit einem Ruck hielt der Wagen am Bordstein. Verena, die sich bereits abgeschnallt hatte, riss die Tür auf, sprang heraus und warf die Tür wieder zu. Sofort fuhr Ari weiter.

So kurz, wie Verena gedacht hatte, fiel die ärztliche Konsultation dann aber doch nicht aus. Volle acht Tage musste sie im Krankenhaus von Tarascon bleiben, bis ihre Brandwunden soweit verheilt waren, dass sie nach Hause weiter reisen konnte. Während dieser Zeit hatte sie genug Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie sie ihren Abschlussbericht verfassen würde. 
Als sie von einer Schwester erfuhr, dass auch Martin Hiems in diesem Krankenhaus versorgt würde, traf sie sich mit ihm. Gemeinsam studierten sie die französischen Zeitungen und erfuhren, dass Konrad Bessi überlebt hatte und verhaftet worden war, dass der alte Schlossbesitzer, dessen Name unbekannt war, und zwei seiner Angestellten „auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen“ waren, und dass der Verbleib „einiger lange verschollener Van-Gogh-Gemälde zwar geklärt, diese allerdings nicht mehr gerettet werden konnten“. Kein Wort allerdings fand sich von Nazi-Machenschaften, kein Wort von geraubten Bildern, von argentinischen Millionen und ermordeten Juden.
Konrads Freund schüttelte sprachlos den Kopf bei dieser Lektüre. Ihn interessierte viel mehr, was aus Konrad werden würde. Immer wieder fragte er, mit welch einer Strafe sein Freund wohl rechnen müsse. 
Aber darauf konnte ihm Verena auch keine Antwort geben.
Sie mochte den jungen Mann, der bei der Schlacht am Feuer so mutig über sich hinausgewachsen und ihr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.

Am letzten Tag ihres Krankenhausaufenthaltes bekam Verena Besuch von der französischen Polizei. Man wollte von ihr wissen, was sie über die Personen Ari Kelch und Martha Charms sagen könne, deren Pässe in einem Wagen nahe des Schlosses gefunden worden waren.
Verena erwähnte nur punktuell Aris Rolle bei ihren Ermittlungen in Deutschland, sagte, dass seine Unschuld jedoch nachgewiesen worden sei und erwähnte oberflächlich sein Verschwinden auf dem Flughafen. Eine Martha Charms sei ihr unbekannt. 
Sie staunte, wie leicht ihr das Lügen fiel. 

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