Sonntag, 12. Februar 2012

21. Kapitel: Der Heimweg


Erst jetzt, als Verena allein war und die Spannung nachließ, spürte sie den Schmerz an Armen und Beinen. Beim Gang durchs Feuer hatte sie wohl doch mehr abbekommen, als gedacht. Ihre Haut schmerzte bedenklich, und sie merkte, wie ihre Sachen daran festklebten. Das war kein gutes Zeichen.
Noch während sie überlegte, ob es klüger wäre, in diesem Zustand zum Flughafen und von dort nach Deutschland zu kommen, oder noch hier in Frankreich einen Arzt aufzusuchen, hörte sie, wie der Motor eines Autos angelassen wurde. Blitzschnell registrierte ihr Gehirn, das es das Auto des Drachen war, dessen Scheinwerfer dort, unweit des Rollfeldes, aufblitzten, und rannte darauf zu.
Ari saß am Steuer, Martha neben ihm. Martha war sichtlich entnervt von Verenas Auftauchen, und funkelte sie böse an. Ari jedoch kurbelte sein Fenster herunter.
„Wieso nehmt ihr sein Auto?“, keuchte Verena.
„Unser hat kein Benzin mehr. Damit kommen wir nicht mehr weit“, entgegnete Ari.
Im selben Moment wurden Verena zwei Dinge klar: Ihr Leihauto stand irgendwo auf dem Acker und war vermutlich auch nicht mehr zu gebrauchen. Und: Ari war gerade dabei, für immer aus ihrem Leben zu verschwinden.
„Jetzt fahr endlich!“, knurrte Martha. „Jeden Moment ist die Polizei hier!“
„Ari“, sagte Verena so beherrscht wie möglich, „nehmt mich mit. In die nächste Stadt wenigstens. Ich muss zum Arzt.“
Martha protestierte heftig, es sei zu gefährlich, sie müssten so schnell wie möglich verschwinden und könnten „keinen Klotz am Bein“ gebrauchen.
In Verena kochte eine unglaubliche Wut auf Martha hoch, die dort so herrisch und wie selbstverständlich an Aris Seite saß und vermutlich auch weiterhin mit ihm zu tun haben würde, während sie selbst so brutal von ihm fortgerissen wurde. Sie biss die Zähne zusammen. Sie wollte sich keine Blöße geben.
„Los, steig ein“, sagte Ari.
Kaum saß sie, startete er und schweigend fuhren sie über das Rollfeld Richtung Straße.
Sie waren bereits ein gutes Stück auf der Straße unterwegs, als ihnen in der Ferne drei Polizeiwagen mit Blaulicht entgegen kamen. Verena war sofort klar, dass die französischen Kollegen Richtung Schloss fuhren, und auch, dass sie reichlich spät dran waren. Als hätten sie gar kein Interesse daran gehabt, zur rechten Zeit zu kommen. Sie überlegte, ob sie nicht halten und den Kollegen von der Landebahn, dem Privatjet und dem toten Drachen berichten müssten. Als hätte Martha ihre Gedanken erraten, zischte sie: „Unterstehe dich, denen irgendein Zeichen zu geben!“ Schweigend fuhren sie weiter. Erst als die Wagen vorbei waren, fügte Martha hinzu: „Im Übrigen: du hast uns beide natürlich nie getroffen. Aus welchem Grund sollte ich dir eigentlich vertrauen? Verdammt, Ari, es war falsch, sie mitzunehmen! Grundfalsch! Sie weiß zu viel!“
Ari schwieg und fuhr stur geradeaus. Die Spannung im Inneren des Wagens wurde immer unerträglicher. Verena hätte gern irgendetwas Raffiniertes gesagt, um die Situation zu entschärfen, doch ihr fiel nichts ein. Ihre verbrannte Haut, besonders an den Armen, schmerzte immer unerträglicher. Gegen ihren Willen drängten sich Bilder auf: Martha, die sich blitzschnell zu ihr umdrehte, ihr eine automatische Waffe vors Gesicht hielt, abdrückte. Ein Wagen, der kurz hielt. Eine Leiche ohne Gesicht, die in den Straßengraben rollte. Der Satz aus Marthas Mund: „Sie wusste zu viel.“ Aris stummes Nicken ...
All das, gepaart mit den Schmerzen, die kaum noch zu ertragen waren, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Verena war am Ende ihrer Kräfte. Sie konnte nicht mehr verhindern, dass sie wie Espenlaub zitterte.
„Ich vertraue ihr“, sagte Ari.
„Und ich nicht“, gab Martha zurück.
Verena, die hinter Ari saß, zitterte immer mehr. War das möglich? Die beiden dort vorne verhandelten gerade über Tod und Leben. Über ihr Leben! War das vor ihr tatsächlich der Mann, in dessen Armen sie sich noch vor wenigen Tagen so ganz zu Hause gefühlt hatte? Der, dem sie ihr Leben anvertraut hätte? Und jetzt – welch ein Widersinn – schien es tatsächlich in seiner Hand zu liegen. Wäre sie nur nicht in dieses Auto gestiegen!
Martha redete immer heftiger auf Ari ein, aber Verena verstand es nicht mehr, vermutlich war es Hebräisch. In ihr breitete sich, je länger Martha redete, immer mehr Panik aus, sie würde sterben, die beiden würden untertauchen, in ihre Heimat zurückkehren, falls sie überhaupt so etwas wie eine Heimat hatten, jedenfalls würden sie nie gefunden werden. Sie würden für den Mord am Drachen nie zur Rechenschaft gezogen werden. Und ein Mord war es gewesen. Der Mann hätte festgenommen werden müssen, dachte sie, und wusste natürlich gleichzeitig, dass ein über neunzigjähriger Altnazi bei einem ordentlichen Prozess nichts mehr zu befürchten hatte. Das Hinhalten, die Anwälte, die ärztlichen Atteste …
Mit einem barschen: „Schluss jetzt! Wir bringen sie ins Krankenhaus. Sie wird uns nicht verraten. Basta!“, beendete Ari Marthas Redeschwall.
Schlagartig war Schweigen zwischen ihnen. Ari lenkte das Auto sicher und schnell die leere Straße entlang durch die Nacht. Verena vermied es nach vorn zu sehen, um Marthas Augen im Rückspiegel nicht zu begegnen.
„Verdammt!“, stieß Martha plötzlich hervor. „Die Tasche! Wir haben die braune Tasche im Auto gelassen! Wie sollen wir denn jetzt …“
„Es ist alles okay“, sagte Ari.
„Aber die Pässe!“
„Ich hab genug andere dabei. Ari Kelch, Linda und Martha Charm gibt es ab sofort nicht mehr.“
Seine Worte versetzten Verena einen Stich. So einfach konnte man es sich also machen. Seinen Namen mal eben so löschen. Ja, Ari, dachte sie, für mich wird es deinen Namen aber weiterhin geben. Und er wird auch ein Gesicht haben. So schnell bin ich mit dem Löschen nicht.
In der Ferne sah sie die Lichter der Stadt auftauchen.
Da wandte sich Ari an sie. „Verena, ich möchte dich bitten, dir schon jetzt etwas auszudenken. Du wirst befragt werden. Du wirst einen Bericht verfassen müssen. Linda hast du natürlich in Frankreich nicht wieder getroffen. Die ist einfach verschwunden. Kein Problem. Aber was ist mit mir? Hast Du eine Idee?“
So habe ich mich noch nie in einem Menschen getäuscht, dachte Verena. Hätte sie mit ihm allein im Auto gesessen, jetzt wäre der Moment gewesen, ihm ihre Wut und ihr Verletztsein ins Gesicht zu schreien. Dass er sie benutzt hatte! Benutzt, um an Informationen zu kommen! Benutzt, schamlos belogen, für seine Zwecke! Aber neben ihm saß diese Frau, die offensichtlich kein Problem damit hatte, jemanden zu erschießen. Sie durfte sich jetzt keine Blöße geben, das konnte sie das Leben kosten.
Sie hatten Tarascon erreicht. Das Ortsschild löste Erleichterung in Verena aus. Am Straßenrand tauchten immer mehr Laternen auf, und Ari fuhr rasch durch die Straßen, als kenne er sich aus.
„Eine Idee?“, sagte Verena. „Nun, dass wir noch ins selbe Flugzeug gestiegen sind, kann ich kaum abstreiten. Das kann man nachprüfen. Aber – im Grunde bist du mir ja schon während des Fluges abhanden gekommen. Vielleicht bist du aus dem Flugzeug gefallen? Wie wäre das?“
„Das ist zwar witzig, aber doch recht unglaubwürdig, meine Liebe.“
Die Straßen waren hell erleuchtet. Verena sah, wie ein Kneipier seine Ladentür abschloss. Ein Stück weiter stand eine junge Frau in eindeutiger Wartehaltung am Straßenrand. Vereinzelte Nachschwärmer torkelten auf dem Heimweg den Bürgersteig entlang. 
Ari bog schwungvoll in eine größere Straße ein.
„Nenn mich nicht ‚meine Liebe‘!“
„Sorry.“
„Bist du denn noch als Ari Kelch aus dem Flugzeug gestiegen?“
„Ja, natürlich.“
„Aber ich habe dich nicht mehr gesehen, seit …“
„Das tut nichts zur Sache, Verena. Das führt jetzt zu weit. Wir sind gleich beim Krankenhaus. Also: wo hast du mich verloren?“
„Auf dem Flughafen natürlich. Du bist nur schnell Zigaretten holen gegangen. Und warst verschwunden. So verschwinden Männer doch, oder?“
„So ein Quatsch!“, fuhr Martha böse dazwischen. „Das ist ...“
„Das ist gut“, stellte Ari fest. „Das ist gut, weil es absurd ist. Und weil es einfach ist.“
Seine Stimme wurde weich. „Verena. Du warst großartig. Ich ziehe den Hut vor dir. Da vorn ist das Krankenhaus. Ich fahre jetzt seitlich ran und halte nur kurz. Steig dann bitte schnell aus.“
„In Ordnung. Ari, ich …“
„Und dies noch: auch wenn du es anders siehst, ich habe dich nicht benutzt. Leb wohl, Verena.“
Mit einem Ruck hielt der Wagen am Bordstein. Verena, die sich bereits abgeschnallt hatte, riss die Tür auf, sprang heraus und warf die Tür wieder zu. Sofort fuhr Ari weiter.

So kurz, wie Verena gedacht hatte, fiel die ärztliche Konsultation dann aber doch nicht aus. Volle acht Tage musste sie im Krankenhaus von Tarascon bleiben, bis ihre Brandwunden soweit verheilt waren, dass sie nach Hause weiter reisen konnte. Während dieser Zeit hatte sie genug Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie sie ihren Abschlussbericht verfassen würde. 
Als sie von einer Schwester erfuhr, dass auch Martin Hiems in diesem Krankenhaus versorgt würde, traf sie sich mit ihm. Gemeinsam studierten sie die französischen Zeitungen und erfuhren, dass Konrad Bessi überlebt hatte und verhaftet worden war, dass der alte Schlossbesitzer, dessen Name unbekannt war, und zwei seiner Angestellten „auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen“ waren, und dass der Verbleib „einiger lange verschollener Van-Gogh-Gemälde zwar geklärt, diese allerdings nicht mehr gerettet werden konnten“. Kein Wort allerdings fand sich von Nazi-Machenschaften, kein Wort von geraubten Bildern, von argentinischen Millionen und ermordeten Juden.
Konrads Freund schüttelte sprachlos den Kopf bei dieser Lektüre. Ihn interessierte viel mehr, was aus Konrad werden würde. Immer wieder fragte er, mit welch einer Strafe sein Freund wohl rechnen müsse. 
Aber darauf konnte ihm Verena auch keine Antwort geben.
Sie mochte den jungen Mann, der bei der Schlacht am Feuer so mutig über sich hinausgewachsen und ihr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.

Am letzten Tag ihres Krankenhausaufenthaltes bekam Verena Besuch von der französischen Polizei. Man wollte von ihr wissen, was sie über die Personen Ari Kelch und Martha Charms sagen könne, deren Pässe in einem Wagen nahe des Schlosses gefunden worden waren.
Verena erwähnte nur punktuell Aris Rolle bei ihren Ermittlungen in Deutschland, sagte, dass seine Unschuld jedoch nachgewiesen worden sei und erwähnte oberflächlich sein Verschwinden auf dem Flughafen. Eine Martha Charms sei ihr unbekannt. 
Sie staunte, wie leicht ihr das Lügen fiel. 

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