Samstag, 17. Dezember 2011

3. Kapitel: Die Verdächtigen


Verenas Kollegen hatten sehr schnell Randolf Bocks Wohnung in Berlin-Hellersdorf abgesichert und auf erste Hinweise durchsucht. Sie fanden nicht viel, doch für Verena zeichneten sich erste Umrisse der Persönlichkeit des Ermordeten ab: Der Mitdreißiger war Maurer gewesen und hatte sich meistens als Saisonarbeiter verdingt. Es schien teuren Whiskey, KungFu- und Actionfilme gemocht zu haben. Seine Schrankwand im Wohnzimmer entpuppte sich als eine beachtliche Filmothek von zahlreichen DVDs, vorzugsweise mit Charlie Chen, Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger und anderen Kämpfernaturen Hollywoods. Das vergangene Jahr hatte er durchgehend Arbeitslosengeld-II bezogen, hatte viel Geld für Lottoscheine, Cannabis, Whiskey und Bier verbraten und so einige Schulden angehäuft. Zumindest ließen das die diversen Mahnbriefe von Inkasso-Firmen und dem Amtsgericht, die Verenas Kollegen in Bocks Wohnung gefunden hatten, mutmaßen.

Verena hatte sich aufgemacht, Randolf Bocks letzten Chef zu befragen, einen überarbeiteten Bauleiter, der gerade ein Bauobjekt in der Nähe des Bahnhofs Gleisdreieck durchführte.
„Was soll ich Ihnen denn sagen?“, meinte er achselzuckend. „Der Herr Bock war nicht weiter auffällig, außer, dass er uns manchmal mit irrwitzigen Gehaltsforderungen auf den Geist ging. Aber das geht in der Branche nun mal nicht, da geht es ums nackte Überleben. Da gilt es, sich zu entscheiden: Fressen oder gefressen werden. Und wer überleben will, muss nun mal die Preise unterbieten. Da kann man keine Rücksicht nehmen, ob jemand ne Familie oder ne verwöhnte Lady zur Freundin hat. Verstehn Se?“
„Hatte Herr Bock denn eine Familie oder eine Freundin, die er unterstützen musste oder wollte?“
„Familie glaub ich nicht. Aber eine Braut war da zuletzt wohl schon im Spiel. Deswegen hatte er sich doch immer mit dem Kamm in den Haaren gehabt.“
„Mit dem Kamm in den Haaren?“ Verena sah den Bauleiter irritiert an.
„Na, in die Wolle haben se sich gekriegt, der Kamm und der Bock! Das meine ich.“
„ein Herr Kamm also“, sagte Verena, „Ich nehme an, Herr Kamm war ein Kollege von Herrn Bock...“
„Ganz genau. Ganz früher waren die Beiden wohl mal richtig gute Kumpels, aber dann... “
„Verstehe – arbeitet Herr Kamm denn noch bei Ihnen?“
„Ja, der müsste gleich aus der Mittagspause hier aufkreuzen. Ach seh‘n Se, da kommt er schon.“ Der Bauleiter winkte einen Mann im Blaumann herbei, der mit hängenden Schultern und düsterem Blick auf sie zuschlürfte.
„Was gibt's, Chef?“, fragte er missmutig.
„Paul, das hier ist Frau Mayer... äh... Mayer-Salotti von der Kripo!“
Verena räusperte sich. „Hauptkommissarin Mayer-Galotti, guten Tag, Herr Kamm. Ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen.“
Paul Kamm sah Verena misstrauisch an.
„Und? Worum geht’s?“
„Es geht um Randolf Bock. Wie ich höre, waren Sie beide enge Kollegen gewesen.“
Paul Kamms Blick wurde noch düsterer.
„Jewesen. Ganz richtig, enge Kollegen - jewesen. Det war einmal.“
„Das mit der Vergangenheit haben Sie ganz treffend erfasst. Ihr ehemaliger Kollege ist nämlich tot.“
„Tot. Wie tot?“ Kamm sah Verena erst irritiert an, dann brach er plötzlich in ein heiseres Lachen aus.
„Ach, hat er sich endlich zu Tode jesoffen oder hat ihn die Tusse zu Tode je...?“ Er brach ab, um nun noch lauter und dreckiger zu lachen. „Ich fass es nicht. Ik fass et nicht.“
„Herr Kamm, ihr früherer Kollege wurde ermordet“, sagte Verena scharf.
„Wie jetzt? Ermordet? Und was hab ich damit...“ Er sah die Hauptkommissarin abwehrend an. „Ach, woll‘n Se mich jetzt dafür beschuldigen oder wie?“
„Noch beschuldigt Sie niemand. Aber da war doch eine Frau zwischen Ihnen Beiden, nicht wahr?!“
Paul Kamms Gesicht nahm jetzt eine rote Farbe an.
„Lassen Se mich bloß in Ruhe mit der Ollen“, knurrte er wutschnaubend. „Ick will mit der nichts mehr zu tun haben. Mit ihr nicht und ebenso wenig mit dem Bock.“
„Wie ist denn der Name der Dame?“
„Haben Sie mich nicht verstanden? Ich hab mit der Sache abjeschlossen. Ende. Aus. Finito.“
„Aber Sie würden uns sehr helfen, wenn...“
Doch Paul Kamm zuckte nur mit den Schultern.
„Ich muss jetzt weitermachen“, sagte er, drehte sich um und ging.
„Herr Kamm, wo waren Sie denn gestern Mittag gegen 12 Uhr?“, rief Verena ihm hinterher.
Doch Paul Kamm zuckte nur erneut mit den Schultern und ging unbeirrt weiter.
„Herr Kamm, wir sind noch nicht fertig“, rief Verena. „Und wenn Sie weiter so die Zusammenarbeit mit uns boykottieren, machen Sie sich verdächtig.“
Doch da war Paul Kamm schon hinter dem Rohbau der Baustelle verschwunden.

Verena dröhnte der Kopf. Was war das nur für eine merkwürdige Geschichte!
Gerade, als ihr Kollege von der Technik hereinkam, um ihr die Ergebnisse der Computerauswertung zu bringen, klingelte schon wieder das Telefon.
Sie nahm ab. „Mayer-Galotti?“
„Ja, guten Tag, Frau Mayer, ich bin es noch einmal, Frau Zöllner. Ich störe Sie hoffentlich nicht. Erinnern Sie sich an mich?“
Verena wäre fast eine unhöfliche Bemerkung herausgerutscht. Welch eine penetrante Frau! Nicht nur, dass sie derart früh am Tatort aufgetaucht war, nein, jetzt rief sie auch noch ständig an, als wäre dieser Mord das Zentrum ihres Rentnerlebens! Verena holte tief Luft und sagte so freundlich wie möglich: „Natürlich erinnere ich mich an Sie, Frau Zöllner.“
Kurz überlegte sie, ob sie der Frau noch einmal ihren vollständigen Namen angeben sollte, entschied sich dann aber dagegen. Von Anfang an hatte die Zeugin sie Frau Mayer genannt.
„Ja, also wissen Sie Frau Mayer, mir ist da noch etwas sehr Wichtiges eingefallen. Und man ist ja als Bürger zur Mitwirkung bei der Aufklärung von Verbrechen verpflichtet, nicht wahr. Die meisten Menschen würden es nicht tun, aber ich nehme diese Pflicht sehr ernst! Und Sie sagten mir ja auch, wenn mir noch etwas Wichtiges einfallen sollte, könnte ich Sie anrufen…“
„Hm“, machte Verena, die sich im Stillen verfluchte, diesen Satz tatsächlich gesagt zu haben, vor allem ausgerechnet zu der Frau. Sie seufzte, winkte ihrem Kollegen, die Akte auf den Schreibtisch zu legen, und bemühte sich, mit der freien Hand eine Zigarette aus der Schachtel zu angeln.
„Das ist doch richtig?“
„Ja“, sagte Verena.
„Frau Meyer, ich habe mich wirklich noch einmal ganz genau erinnert. Ich habe mir den Abend vor zwei Tagen noch einmal sehr genau ins Gedächtnis gerufen …“
Gestern war der Mord geschehen, und jetzt rief diese Zöllner schon zum fünften Mal an! Verena hatte weiß Gott noch anderes zu tun, als alten Frauen, die nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten, den Alltag aufzupeppen!
„Ja und?“, murmelte sie und zündete sich die Zigarette an.
„Was ich sagen wollte: Natürlich habe ich die Gesichter der Männer nur aus großer Entfernung gesehen. Aber Sie wissen ja, dass ich Lehrerin war, nicht wahr? Und als Lehrerin wird man im Laufe des Berufslebens sozusagen zum Gesichtsexperten. Ich konnte mir immer schon sehr gut Gesichter einprägen, und habe meine Schüler regelmäßig in Erstaunen versetzt, dass ich bereits am zweiten Tag, nachdem ich sie kennengelernt hatte, alle namentlich benennen konnte. Treffsicher.“
„Großartig, Frau Zöllner“, knirschte Verena. „Aber Sie wollten mir etwas erzählen. Bitte fassen Sie sich doch etwas kürzer, ich…“
„Natürlich, natürlich, Sie haben ja zu tun. Ach - das muss ein so spannender Beruf sein, den Sie da ausüben, junge Frau! Bestimmt lieben Sie ihren Beruf ebenso wie ich meinen geliebt habe. Also, was ich Ihnen sagen wollte: Die beiden Männer, die ich vorgestern Abend ins Hotel gehen sah, der eine davon war ja eindeutig die Leiche, also die spätere Leiche meine ich natürlich …“
„Das sagten Sie schon.“ Verena fragte sich, warum sie immer noch so höflich war.
„Ja, aber der andere, und darauf wollte ich doch hinaus, der andere, das ist mir noch eingefallen, hatte so eine merkwürdige Frisur.“
„Aha“, sagte Verena und dachte für einen kurzen Moment: ‚diese Frau ist bestimmt selbst die Mörderin. So muss es sein. Die erzählt mir das hier doch alles nur, um mich zu verwirren. Warum ist die mir nur so furchtbar unsympathisch?’ Aber dann verwarf sie den Gedanken gleich wieder, weil er, nüchtern betrachtet, schlichtweg lächerlich war.
„Die Frisur war schief, wissen Sie, rechts über der Stirn waren ganz viele Haare, und links dagegen hatte er so etwas wie eine riesige Geheimratsecke. Da sah man ganz viel Stirn. Er sah ganz schief aus dadurch. Und dann hatte er noch Kotletten, lange, dunkle Kotletten, und Locken im Nacken.“
„Aha“, sagte Verena wieder.
„Sie glauben mir nicht?“
„Doch natürlich, Frau Zöllner. Ich wundere mich nur, dass Sie das alles erkannt haben können bei über zwanzig Metern Entfernung.“
„Vor dem Hotel war es hell beleuchtet!“, gab die alte Frau beleidigt zurück. „Und ich habe gute Gläser! Falls es Sie noch interessiert, was ja eigentlich Ihre Pflicht sein müsste – das ist noch nicht alles, woran ich mich erinnere.“
Verena schwieg jetzt lieber und betrachtete gedankenverloren den leeren Stuhl ihres Kollegen Dennis.
„Er hatte ein Gesicht wie ein Affe.“
„Wie ein Affe? Wie meinen Sie das?“
„Wie ein Neandertaler eben, so grob, und sehr starke, dunkle Augenbrauen. Wissen Sie was, Frau Mayer, ich habe mich direkt gegruselt an dem Abend, vermutlich habe ich ihn mir deshalb so deutlich eingeprägt.“
„Danke, Frau Zöllner“, sagte Verena genervt und atmete tief durch. „Ich werde es mir notieren und rufe Sie wegen des Phantombildes an.“
Frau Zöllner beteuerte, dass sie ihr selbstverständlich jederzeit zur Verfügung stehen würde, aber an ihrer Stimme ließ sich erkennen, dass sie beleidigt war, weil sie sich nicht ernst genommen fühlte.
Dann legte sie auf.
„Noch mehr solche Zeugen, und ich drehe durch!“, fluchte Verena. Es ärgerte sie, dass ihre Zigarette im Ascher herunter gebrannt war, ohne dass sie etwas davon gehabt hatte. Sie seufzte, steckte sich eine neue an und sah zur Übersichtswand rüber. Es war wie verhext. War nichts los, war Dennis immer da. Dann saß er sinnlos in seinem Schreibtischstuhl herum, drehte Däumchen und nervte sie mit seinen Krankengeschichten. Aber nie, einfach niemals, war er zur Stelle, wenn ein wirklich verzwickter Fall anstand! Musste er ausgerechnet jetzt schon wieder im Urlaub sein? Erst in der nächsten Woche würde er wiederkommen. Dabei hätte sie ihn jetzt so gebraucht. Ihr fehlte das Gespräch. Wenn sie mit Dennis die Fakten erörterte, kam sie in der Regel schneller auf den springenden Punkt.
„Also“, sagte sie laut in Richtung des leeren Arbeitsplatzes: „Hör zu, Dennis. Wir haben diesen toten Randolf, über dessen Ableben bestimmt einige Leute erleichtert sein werden. Randolf. Was ist das überhaupt für ein beknackter Vorname?“ Sie ging zur Übersichtswand und pinnte ein Foto der Leiche in die Mitte. „Und dann haben wir diesen dubiosen Affenmenschen, der laut Aussage unserer penetranten Frau Zöllner mit dem Opfer am Tatort gesehen wurde, wenige Stunden vor der Tat.“
Sie schrieb: „Verdächtiger 1: Affe“ auf einen Zettel und pinnte ihn an. „Dann haben wir die liebe Frau Zöllner selbst, die vorgibt, eine Zeugin zu sein, die wahrscheinlich auch eine Zeugin ist, aber wer weiß? Man durfte nichts ausschließen. Sie war Lehrerin. Vielleicht war Randolf Bock ein Schüler von ihr und sie hat noch eine alte Rechnung mit ihm offen? Ich hasse Lehrerinnen!“ Mit einem Gefühl des Triumphes, das nicht wenig mit lang zurückliegenden Grundschulerfahrungen zu tun hatte, pinnte sie einen Zettel an, auf dem „Verdächtige 2: Frau Zöllner“ stand.
„Drittens“, fuhr sie fort, „gibt es da Randolf Bocks Kollegen, Paul Kamm, mit dem er offensichtlich um eine Frau konkurrierte. Und viertens haben wir die Frau selbst.“ Sie schrieb „Verdächtiger 3: Paul Kamm“ und „Verdächtige 4: Freundin, unbekannt“ auf zwei separate Zettel und heftete diese ebenfalls an die Pinnwand.
„Macht insgesamt vier Verdächtige bis hierhin.“, schloss sie ihr Resümé ab.
Dann trat sie zurück und betrachtete die Pinnwand wie ein Maler sein Kunstwerk. Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Natürlich konnte dieser Randolf Bock bei seinem Lebenswandel jede Menge Feinde gehabt haben.  Haase war gerade in der Wohngegend des Opfers unterwegs und hatte ihr schon einige unappetitliche Details gemailt. Bock hatte es zum Beispiel geliebt, mit seinem Motorrad auf den Bürgersteig auszuscheren und die Passanten zu Tode zu erschrecken. Es hatte zwei tote Hunde und einige verletzte Kinder gegeben. Man hatte ihm aber nie etwas nachweisen können, vermutlich hatte er immer sehr darauf geachtet, dass gerade keine Polizei in der Nähe war, wenn er seine üblen Späße trieb. Aber war das ein Grund, ihn umzubringen? Wer waren die Hundebesitzer gewesen? Hundebesitzer waren ja manchmal merkwürdige Leute. Oder die Eltern der verletzten Kinder? Waren die Kinder schwer verletzt gewesen? Man musste das recherchieren. Sie machte eine Notiz an der Tafel.
„Verdammt, Dennis, so kommen wir nicht weiter.“ Ihr Blick fiel auf die Akte der Computerabteilung. Sie setzte sich und vertiefte sich in den Bericht. Sie schmunzelte über eine der Mailadressen des Opfers: ‚drache-von-tarascon‘. „Das wärst du wohl gern gewesen“, murmelte sie. Interessant war eine der Mails, die Randolf Bock zwei Wochen vor seinem Tod erhalten hatte:
Sie haben Interesse an  MALER AUF DEM WEG NACH TARASCON signalisiert. Kostenpunkt 3 Mill. Dollar. Kontaktieren Sie mich.‘ Es folgte eine lange Telefonnummer. Ein Name fehlte. Unter dem Mailausdruck gab es eine Notiz der Computerfachleute: ‚Telefonnummer von Konrad Bessi, Bariloche, Argentinien‘.
Argentinien? Was sollte das denn? Wer oder was war der MALER AUF DEM WEG NACH TARASCON? Das musste sie googeln. Und warum tauchte zweimal Tarascon auf? Das passte doch alles nicht zusammen. Was sollte ein Typ wie Randolf Bock, der auf dem Bau gearbeitet und sich, wie man sah, ziemlich häufig auf zwielichtigen Sexseiten im Netz herumgetrieben hatte, mit Argentinien zu tun haben? Sie blätterte in der Akte. Interessant. Auch Bock hatte MALER AUF DEM WEG NACH TARASCON gegoogelt. Am selben Tag, an dem er die Mail erhalten hatte. Sie tippte es ein und fand schnell heraus, dass es sich dabei um ein verschwundenes Bild von Van-Gogh handelte. Es war 1939 den jüdischen Eigentümern entwendet, auf einer Ausstellung entarteter Kunst in Berlin gezeigt und hinterher im Magdeburger Schloss versteckt worden. Nach dem Krieg war es verschwunden. Existierte das Bild also noch? Warum aber sollte Bock ein solches Bild kaufen? Das war kein Kunstinteressierter! Der hatte Motorräder und Sex im Kopf, aber keine Bilder! In seiner Wohnung hatte es nicht ein einziges Bild an den Wänden gegeben oder sonst etwas, das auch nur im Entferntesten auf irgendwelches Kunstinteresse hätte schließen lassen. Und woher sollte ausgerechnet dieser Mensch, dessen Konto immer haarscharf am unteren Limit des Dispo herumschrammte, drei Millionen Dollar nehmen?
„Dennoch,“ dachte sie laut nach, „auch dieser Konrad Bessi könnte ein Verdächtiger sein. Man müßte zumindest mal recherchieren, ob er sich zur Tatzeit in Deutschland aufgehalten hatte.“ Auf einem weiteren Zettel hielt sie fest: „Verdächtiger 5: Konrad Bessi, Argentinier“ und fügte ihn ihrem Kunstwerk hinzu. 
Das wurde ja immer unübersichtlicher.
Die Tür ging auf und Ralf von der Spusi trat ein.
„Na, dein Kollege wieder mal krank?“
„Im Urlaub.“
„Du Arme!“
Ralf versuchte schon seit zwei Jahren, sie anzubaggern. Er war ein netter Kerl, aber sie stand nicht auf Männer, die jünger waren als sie.
„Wie haben Fingerabdrücke“, sagte er und legte die Objektivkappe auf ihren Schreibtisch, die vor Bocks Parterrefenster, in der Hellersdorfer Strasse 488, gefunden worden war. „Hier, schöne, saubere Abdrücke. Besser geht’s gar nicht. Auf dem glatten Material wie aus dem Lehrbuch. Siehst du? Sogar von beiden Händen.“
Wie ein Schüler, der seiner Lehrerin eine Freude machen möchte, blätterte er einige vergrößerte Ausdrucke mit Fingerabdrücken vor ihr hin. „Aber leider – ich hab’s schon durchlaufen lassen – Fehlanzeige. Jedenfalls nichts in der Kripo-Datei.“
„Ach, Ralf, das wäre’ doch gar nicht dein Job gewesen.“
Er grinste sie schief an.
„Trotzdem danke.“
„Gern. Ich hätte Dir viel lieber einen anständigen Verdächtigen präsentiert.“
„Nett von dir. Aber wir wissen ja noch gar nicht, ob diese Objektivkappe überhaupt was damit zu tun hat. Die kann irgendjemand einfach da unterm Fenster verloren haben …“
„Stimmt.“ Er schaute zur Pinnwand. „Kommst du denn weiter?“ Stirnrunzelnd betrachtete er die Zettel. „Äh? Du verdächtigst einen Affen?!“
„Nein, keinen Affen“, sagte Verena, stand auf und schob Ralf sanft zur Tür.
„Wenn Du mich brauchst …“, murmelte er.
„Danke.“
„Und meine Einladung zum Essen steht noch …“
„Danke Ralf, ich muss jetzt wirklich weitermachen.“
Verena stand vor ihrem Schreibtisch und biss sich auf die Lippe. Warum wurde sie immer von Männern angebaggert, die sie nicht die Bohne interessierten?
Die Objektivkappe lag da wie ein Vorwurf. Ralf war ein zuverlässiger Typ. Wenn er sagte, dass er die Fingerabdrücke abgeglichen und nichts gefunden hatte, stimmte das. Schade, sie hatte solche Hoffnungen in diese blöde Objektivkappe gesetzt. Irgendetwas in ihr weigerte sich, die runde Plastikscheibe in dem Fach verschwinden zu lassen, in dem die unergiebigen Fundstücke lagen.  So schöne Fingerabdrücke! Und zu nichts nütze!
Sie wanderte durchs Büro. Sie wusste zu wenig von diesem Bock. Der hatte bestimmt auch noch ganz andere Seiten gehabt. Ein unangenehmer Typ war er gewesen. Aber wem hatte er besonders übel mitgespielt? Man musste sich noch einmal unter seinen Arbeitskollegen umhören und die Freundin finden. Vielleicht wußte sie mehr. Vor allem aber mußte man Paul Kamm noch einmal verhören. Was war am Tag seines Todes genau passiert? Lebten seine Eltern noch? Hatte er Geschwister? Und warum Argentinien …?

Plötzlich hatte sie eine Idee. Eine ihrer Kolleginnen hatte gerade in der vorletzten Woche einen Riesentreffer gelandet, nur weil sie einen Gesichtsabgleich im Archiv einer ganz anderen Abteilung gemacht hatte. Die Kollegen hatten sie dafür ausgelacht und gespöttelt, sie habe wohl nichts zu tun, dass sie dort suche, wo man gar nichts finden könne. Und dann war der Volltreffer gekommen. – Wenn sie nun einen Abgleich mit den Dateien der Einreisebehörden beantragen würde? Zum Beispiel mit den Einreisen aus Argentinien in den letzten vier Wochen?
So absurd es ihr vorkam, aber zum ersten Mal bei diesem Fall hatte sie dieses Kribbeln im Bauch, das eigentlich immer dann auftauchte, wenn sie die richtige Fährte witterte. Was soll’s, dachte sie. Ich versuch’s einfach. Schaden kann es schließlich nicht.
Nach einigen Telefonaten mit dem Zoll, mit Interpool und ihrem Chef hatte sie schließlich die richtige Stelle gefunden, an die sie den Abdruck schicken konnte.
Zwei Stunden später hätte Verena gern eine Flasche Rotwein im Schreibtisch gehabt. Genial. Sie war einfach genial! Vor ihr lagen zwei Ausdrucke, einer vom Flughafen, daneben der von Ralf. Volltreffer. Erstaunlicher Weise gehörten die Fingerabdrücke zu keinem der bereits identifizierten Verdächtigen, insbesondere nicht, wie sie es am ehesten vermutet hätte, zu dem Argentinier Konrad Bessi. Aber immerhin gehörten die Abdrücke zu einer identifizierten Person. 
Immer wieder las sie die Mail der Kollegen: ‚Ari Kelch, 62, wohnhaft Bariloche, Argentinien, eingereist am 04.09.2011, um 18.32 Uhr, Berlin-Tegel.“
Verena schrieb den Namen mit der Ergänzung: „Verdächtiger 6“ auf einen Zettel und heftete ihn schwungvoll an die Pinnwand.
„So!“, sagte sie. „Feierabend.“ Plötzlich war sie hundemüde und merkte, dass sie erheblichen Hunger hatte. Sie sah auf die Uhr, es war kurz nach zehn. Und im selben Moment fiel ihr ein, dass sie ja heute tagsüber hatte einkaufen wollen. In ihrem Kühlschrank zu Hause war gähnende Leere. „Mist!“, fluchte sie. Könnte es nicht mal jemanden geben, der sie zum Essen einlud und mit dem sie Spaß hätte, essen zu gehen?


Dienstag, 13. Dezember 2011

2. Kapitel: Der Irrtum

Konrad Bessi stand vor seinem Badezimmerspiegel und gab seinem Äußeren den letzten Feinschliff. Etwas Gel in die kurzen hellbraunen Haare, etwas Puder auf die schmale Nase, etwas Kajalstift unter die blauen Augen.
Während er seine schmalen Lippen mit Vanillebalsam betupfte, dachte er darüber nach, wie er nach dem Berliner Zwischenfall weiter vorgehen sollte. Die Sache passte überhaupt nicht in Konrads Pläne. Seine Geldsorgen waren nun noch größer, da er Hans Müller bezahlen musste, und das Bild war immer noch nicht verkauft.
Er rückte seine Fliege zurecht und ging ins Schlafzimmer, um sein Jackett zu holen. Dort hielt er inne und warf einen verärgerten Blick auf das Gemälde über seinem Bett. Es zeigte einen Wanderer mit Strohhut und blauem Arbeitsanzug, der in gleißender Sonne über Feldwege spazierte und nur von seinem eigenen Schatten begleitet wurde.
In der Schlichtheit der japanischen Zimmereinrichtung und des matten Lichtes sah das Bild gar nicht so besonders aus, aber sein Schöpfer und seine Geschichte machten es mindestens acht Millionen Dollar wert, handelte es sich doch um einen echten Vincent Van- Gogh. Das Bild trug den Titel „Maler auf dem Weg nach Tarascon“ und war ein Erbstück seines Großvaters, der es, dies war Konrad bewusst, im Krieg aus dem Magdeburger Schloss gestohlen und illegal mit nach Argentinien genommen hatte.
Eigentlich hatte Konrad das Bild niemals verkaufen wollen. Zu verbunden fühlte er sich mit dem einsamen Wanderer, der auf der Suche nach einer Heimat und nach künstlerischem Erfolg war. Aber Geldprobleme zwangen ihn dazu. Seine Erbschaft neigte sich dem Ende zu, und er lebte auf großem Fuß. Erste Spielschulden hatten sich bereits angehäuft. Das Haus, die Partys, seine Liebhaber – das alles musste und wollte finanziert werden. Sein Vater hatte ihn Zeit seines Lebens zu Dingen gezwungen, die er nicht tun wollte: ein Wirtschaftsstudium und heterosexuelle Beziehungen. Am Tag als sein Vater starb, vor vier Jahren, schwor sich Konrad, dass er in der Zukunft nur noch Dinge tun wollte, die ihm Spaß machten: Theater und Black Jack spielen, Partys feiern und Partner wechseln. Noch hatte niemand Verdacht geschöpft, dass er pleite war, aber es war nur noch eine Frage der Zeit. Wenn er das Bild wenigstens für drei Millionen Dollar auf dem Schwarzmarkt verkaufen könnte, wären all seine Geldprobleme mit einem Schlag gelöst. Der erste Versuch war leider fehlgeschlagen, aber vielleicht tat sich bald eine zweite Chance auf.
Konrad zog sein Jackett an und ergriff die Autoschlüssel. Er schaltete die Alarmanlage des Hauses an und schritt zügig zur Garage, die er kurz darauf in einem weinroten Jaguar verließ.
Seitdem er vor ein paar Jahren zum ersten Mal Deutschland besucht hatte, war er immer noch überrascht, wie sehr seine Strasse den Strassen einer bayrischen Kleinstadt ähnelte. Er war hier in Argentinien, in Bariloche, aufgewachsen und hatte mit seinem Vater immer Deutsch geredet. Aber Besuche in Deutschland gab es nur den einen. Trotz seiner geringen Verbundenheit zu Deutschland, fühlte er sich zu deutsch um argentinisch zu sein und zu argentinisch, um deutsch zu sein. Dies ließ ihn vorwiegend in der Gegenwart leben. Er konnte sich weder mit argentinischer noch mit deutscher Geschichte identifizieren. Ja, es muss einen Grund gegeben haben, warum sein Vater und dessen benachbarte Freunde nach dem Krieg nicht in Deutschland bleiben konnten, und warum ein jeder von ihnen ziemlich wohlhabend war, aber darüber hatte niemand von ihnen jemals ein Wort verloren. Konrad war all dies egal. Besonders das Leiden anderer Menschen war ihm egal, weil er fand, dass er selbst genug gelitten hatte. In der Schule war er wegen seines mädchenhaften Aussehens gehänselt und ausgestoßen worden. Mit 14 hatte er seine Mutter an einen Reitunfall verloren. 
Konrads Freund Martin, der ihm in Jeans und mit nassen Haaren die Tür aufmachte, begrüßte Konrad mit einem Kuss auf die Wange und den Worten:
„Ich habe eine Überraschung für Dich. Du erhältst ein Vorsprechen für die Rolle des Revisors von Gogol. Das ist Deine Chance auf eine Hauptrolle. Nächste Woche Mittwoch, um 11 Uhr, im Theater. Was sagst du? Freust du dich?“
Konrad war verblüfft.
„Was? Heiliger Schwan. Wie hast du denn das gemacht? Das ist großartig!“ Konrad klatschte sich vor Freude in die Hände.
„Für dich tue ich doch alles!“, antwortete Martin schelmig und zupfte Konrad an der Fliege. „Ich habe meine Beziehungen als Bühnenschreiner für dich spielen lassen.“ Er lächelte, dann forderte er Konrad auf:
„Komm mit ins Bad. Ich muss mich noch fertig machen.“
Konrad folgte Martin ins Bad und sah zu, wie sich dieser frisierte. Einen Moment zögerte er, dann sprach er aus, was ihm auf der Seele lag:
„Du sag mal, der Kaufinteressent, den du mir letztens vermittelt hast... wie viel wusstest du von dem? Ich habe ihn kontaktiert, aber wie sich herausstellte, war er nicht am Kauf interessiert.“ Konrad wählte seine Worte mit Bedacht.
„Was?“ Martin wandte seinen Blick Konrad zu und sah ihn mit erstaunten, braunen Augen an. „Das kann nicht sein. Wie ich dir bereits gesagt hatte, habe ich den Namen von einem Freund, der Kunst- Auktionen veranstaltet. Er hatte mir den Namen sehr diskret zugesteckt und nur gesagt, dass es ein deutschsprachiger Kunstsammler aus Südfrankreich sei. In Tarascon lebe er wohl. Daher auch die komische Email-Adresse: drache-von-tarascon@mail.com. Was ist denn passiert? Hast du mit ihm gesprochen?“
„Nun ja...“ erwiderte Konrad vorsichtig, „er wollte den Kauf nicht. Und dummer Weise hatte ich ihm in meiner Mail sensible Daten mitgeliefert, weil ich annahm, er käme aus vertrauenswürdiger Quelle.“
„Oh, das tut mir leid, Konrad. Ich frage meinen Freund noch mal, was er sich dabei gedacht hat, uns diesen Namen zu geben. Das ist ja furchtbar!“
„Nein, frag‘ lieber nicht! Ich möchte nicht, dass die Sache große Wellen schlägt. Lass uns die Sache unter den Teppich kehren. Es ist ja nichts weiter passiert.“
Konrad versuchte bei dem Abendessen, zu dem er Martin eingeladen hatte, lebendig und fröhlich zu wirken. Nur leider war ihm nicht so zumute. Das Fleisch schmeckte trocken, der Wein fade. Zwar ging er nach dem Essen noch für eine Stunde mit zu Martin, aber selbst dieser schmeckte an diesem Abend nicht so gut wie sonst.
Wieder zu Hause angekommen, schlug Konrad seinen Laptop auf und schaute kurz in seine Mails.
Da lag eine Mail in seinem Postfach mit dem Absender: drache_von_tarascon@mail.com. Als er sie öffnete, las er die Worte: „Warum melden Sie sich nicht bei mir? Ich bin immer noch an dem Bild interessiert." Konrad schaute auf die Unterstriche und begriff, dass er beim ersten Mal die falsche Person angeschrieben hatte. Was für ein fataler Irrtum! 


1. Kapitel: Mord oder Selbstmord

Oh, nein, nicht schon wieder. Er hatte erneut die Weingläser umgeschmissen, und ein weiteres Mal vernahm Verena Mayer-Galotti das nervtötende Geräusch zerbrechenden Glases.
"Gianni, jetzt hör endlich auf", sagte sie.
"Ja, ja, schon gut", sagte er, kam näher und begann an ihrem Ohrläppchen zu knabbern
Normalerweise hätte sie Gianni schroff von sich gewiesen, aber zu ihrem eigenen Erstaunen lies sie Gianni gewähren und genoss die unerwartete Zärtlichkeit. Doch da passierte es schon wieder, Glas klirrte und klirrte. Und irgendetwas an diesem Geräusch irritierte sie zusätzlich, denn das Klirren klang doch merkwürdig schrill.
"Meine Güte, jetzt reicht es aber wirklich", sagte Verena genervt und schlug auf den Tisch.

Da erwachte sie, das Klirren war kein Rotweinglas und auch ihr Ex-Mann war nicht in ihrer Nähe. Es war das Telefon, das sie tief aus ihren Träumen riss.
"Ja, bitte?!", murmelte sie in den Hörer.
"Frau Mayer-Galotti, Sie müssen sofort kommen. Es hat einen Vorfall in Mitte gegeben, Nähe Hackescher Markt."
Plötzlich war sie hellwach.
"Wo genau?", fragte sie.
"An der Spandauer Brücke 11, Hotel Adina, ein Mann ist aus dem fünften Stock des Hotels gestürzt, tot. Mord oder Suizid, das ist noch nicht sicher"
"Alles klar, ich bin sofort da."
"Mist", fluchte sie, als sie auf die Uhr sah. Es war Sonntagvormittag, kurz nach neun, doch die Kommissarin fühlte sich wie gerädert. War sie doch erst vor wenigen Stunden ins Bett gekommen, nachdem sie mit einer 40-jährigen Freundin deren Junggesellinnen-Abend gefeiert hatte. Was musste Sybille auch zum dritten Mal heiraten? Einmal heiraten und sich scheiden lassen, müsste doch als Lebenserfahrung reichen, dachte sie und wurde sofort wieder an Gianni erinnert, mit dem die letzten Ehejahre ein einziger Kampf gewesen waren. Und jetzt träumte sie auch noch so einen hausgemachten Blödsinn von ihm.

Verena seufzte und zog sich wie automatisiert Jeans, Pulli und Blazer über und steckte Zigarrettenschachtel und Feuerzeug ein. Dann fuhr sie sich noch einmal kurz durch die dunklen, langen Locken und ließ die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen.

Am Tatort angekommen, war die Spurensicherung bereits da, ein weißes Tuch lag über der Leiche und die Kollegen hatten einen Sichtschutz aufgestellt.
"Weiß man schon wer der Tote ist?, fragte sie den Kollegen Michels von der SpuSi.
Michels grinste und hielt ihr einen Personalausweis vor das Gesicht.
"Randolf Bock", las sie, geboren in Berlin am 1. August 1979. Das Passfoto zeigte einen unscheinbaren Mann mit fettigem Haar und teigigem Gesicht. Dann zog Michels kurz das Leichentuch zur Seite. Randolf Bock lag mit aufgerissenen, starren Augen auf der Seite, Blut sickerte ihm aus dem Mund.
"Wer hat die Polizei gerufen?", wollte sie wissen.
"Die ältere Dame dort", sagte Michels und wies auf eine kleine, hagere Frau von etwa 70 Jahren, die gerade auf dein paar Passanten einredete. Na, das kann ja heiter weiter, murmelte Verana, doch noch bevor sie sich entscheiden konnte, wenn sie zuerst befragen sollte, kam die Alte schon auf sie zu.
"Sind Sie von der Kripo? Na endlich, das wurde aber auch Zeit, ich hatte schon gleich so etwas im Gefühl als ich die beiden Männer ..."
"Wie heißen Sie?", schnitt Verena ihr das Wort ab.
Die 70-Jährige sah sie verwundert an: "Also, ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen, ...den, der ihn über den Balkon geschubst hat. Und ich hab noch gute Augen, richtig gute Augen, verstehen Sie?"
"Ja, ja, das glaube ich Ihnen, trotzdem würde ich gerne erst einmal Ihre Personalien aufnehmen. Ihren Ausweis bitte."
Die ältere Frau guckte erst etwas beleidigt, holte dann aber ihren Personalausweis hervor. "Magdalena Zöllner, ich wohne seit 50 Jahren in dieser Straße."
"Spandauer Brücke 12", las Verena und blickte sich um. "Wo genau ist denn die Nummer 12?"
"Na, dort", sagte Frau Zöllner und wies auf einen Plattenbau, der direkt gegenüber des Hotels lag.
"Ich wohne schon seit DDR-Zeiten dort, im fünften Stock, da bin ich direkt in Augenhöhe mit dem obersten Stock des Adinas. Aber wissen Sie, damals, da sah das noch ganz anders hier aus, und jetzt wird alles neu gebaut, wie das Hotel hier. Und überall die Touristen, ich muss Ihnen sagen, furchtbar. Letztens hat man mich in der Bäckerei sogar Englisch angesprochen, ist das noch zu fassen? Können Sie sich das vorstellen? Von den Schrippen, die man dort verkauft, will ich gar nicht sprechen! Ich weiß ja nicht, ob Sie auch aus dem Osten..."
"Frau Zöllner", unterbrach Verena sie scharf, "was genau haben Sie denn gesehen?"
"Ich sah einen Mann in das Hotel kommen, der mir schon mal verdächtig vorkam."
"Inwiefern verdächtig?"
"Na, wissen Sie, das hat man im Gefühl. Der sah so aus, als würde er dem Hartz-IV-ler folgen. Das kam mir ja schon spanisch vor."
"Hartz-IV-ler? Ein Arbeitsloser? Wie kommen Sie denn darauf?"
"Na, der Ermorderte. Gucken Sie sich den doch mal an, das ist kein Gast vom Adina. Die Gäste dort haben Geld. Die laufen nicht so herum wie der." Frau Zöllner, die eine weiße, gebügelte Bluse trug, verzog leicht das Gesicht.
Ja, dachte Verena, die Zeugin hatte insofern recht, als dass der Ermordete mit seiner ausgebeulten Cordhose und dem ausgefransten Pulli nicht gerade wie der typische Gast eines so schmucken Design-Hotels wie das Adina aussah.
"Was geschah weiter?"
"Na , drei Minuten später sah ich die beiden auf dem Balkon miteinander rangeln, und dann fiel der Hartz-IV-ler herunter und der Andere war plötzlich verschwunden."
"Und den Anderen haben Sie nicht wieder gesehen?"
"Nein. Ich war allerdings auch etwas aufgeregt..., habe meinen Fernseher ausgestellt und die Polizei angerufen. Dann bin ich gleich hinunter. Ich wusste ja nicht, ob der Hartz-IV-ler schon tot war."
"Ob der Tote tatsächlich staatliche Transferleistungen bezogen hat, wissen wir noch gar nicht, Frau Zöllner. Aber erzählen Sie bitte zu Ende."
"Als ich unten ankam, waren schon ein paar Angestellte aus dem Hotel da. Einer versuchte noch kurz, den Toten wiederzubeleben. So ein Blödsinn. Das hat doch ein Blinder mit dem Krückstock gesehen, das der mausetot war. Dann kam die Polizei und jetzt Sie"
"Gut, Frau Zöllner, was können Sie denn zum Verdächtigen sagen? Ein Aktenkoffer..."
"Ja, ja er trug einen Aktenkoffer und so einen dunklen Mantel. Groß war er, zumindest größer als der Ermordete."
"Das ist ja auch keine große Kunst, wenn der Ermordete gerade einmal 1,68 groß war" sagte Verena, als sie sich ihre Notizen machte.
"Ich kann mit Ihnen auf das Revier kommen und Ihrer Computerabteilung ganz genau beschreiben, wie der Kerl aussah. Dann können Sie so ein Bild machen..., so ein Porträt von ihm. Wie heißt das denn noch gleich?"
"Meinen Sie etwa ein Phantombild?"
"Ja, ganz genau, ein Phantombild."
Verena rollte innerlich mit den Augen und sagte:"Ich denke, das reicht vorerst."
Und als sie Magdalena Zöllners enttäuschten Blick bemerkte, fügte sie noch schnell hinzu: "Aber falls wir es benötigen, werden wir gerne auf Ihr Angebot zurückkommen, Frau Zöllner. Und falls Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, rufen Sie uns bitte an. Hier ist meine Karte."
Verena reichte ihr ihre Visitenkarte, wandte sich ab und ging zu einem ihrer Kollegen, André Haase, der gerade aus dem Eingang des Hotels kam.
"Und?", fragte sie ihn, während sie sich eine Zigarette anzündete.
Haase schüttelte den Kopf.
"Nichts", sagte er. "Der diensthabende Rezeptionist und die anderen Hotelangestellten wollen niemanden gesehen haben, der auffällig gewesen wäre."
"Und die Kollegen im Hotelzimmer, wie weit sind die?"
"Die Spusi ist noch dran, aber bis jetzt gibt es im Zimmer noch keine näherern Hinweise. Der Mörder und sein Opfer scheinen sich augenscheinlich nicht lange im Hotelzimmer aufgehalten zu haben. Möglicherweise haben sie sich auch gekannt."
"Möglicherweise", sagte Verena und zog nachdenklich an ihrer Zigarette. Sollte es tatsächlich keinen anderen Zeugen als Magdalena Zöllner geben?