Dienstag, 13. Dezember 2011

1. Kapitel: Mord oder Selbstmord

Oh, nein, nicht schon wieder. Er hatte erneut die Weingläser umgeschmissen, und ein weiteres Mal vernahm Verena Mayer-Galotti das nervtötende Geräusch zerbrechenden Glases.
"Gianni, jetzt hör endlich auf", sagte sie.
"Ja, ja, schon gut", sagte er, kam näher und begann an ihrem Ohrläppchen zu knabbern
Normalerweise hätte sie Gianni schroff von sich gewiesen, aber zu ihrem eigenen Erstaunen lies sie Gianni gewähren und genoss die unerwartete Zärtlichkeit. Doch da passierte es schon wieder, Glas klirrte und klirrte. Und irgendetwas an diesem Geräusch irritierte sie zusätzlich, denn das Klirren klang doch merkwürdig schrill.
"Meine Güte, jetzt reicht es aber wirklich", sagte Verena genervt und schlug auf den Tisch.

Da erwachte sie, das Klirren war kein Rotweinglas und auch ihr Ex-Mann war nicht in ihrer Nähe. Es war das Telefon, das sie tief aus ihren Träumen riss.
"Ja, bitte?!", murmelte sie in den Hörer.
"Frau Mayer-Galotti, Sie müssen sofort kommen. Es hat einen Vorfall in Mitte gegeben, Nähe Hackescher Markt."
Plötzlich war sie hellwach.
"Wo genau?", fragte sie.
"An der Spandauer Brücke 11, Hotel Adina, ein Mann ist aus dem fünften Stock des Hotels gestürzt, tot. Mord oder Suizid, das ist noch nicht sicher"
"Alles klar, ich bin sofort da."
"Mist", fluchte sie, als sie auf die Uhr sah. Es war Sonntagvormittag, kurz nach neun, doch die Kommissarin fühlte sich wie gerädert. War sie doch erst vor wenigen Stunden ins Bett gekommen, nachdem sie mit einer 40-jährigen Freundin deren Junggesellinnen-Abend gefeiert hatte. Was musste Sybille auch zum dritten Mal heiraten? Einmal heiraten und sich scheiden lassen, müsste doch als Lebenserfahrung reichen, dachte sie und wurde sofort wieder an Gianni erinnert, mit dem die letzten Ehejahre ein einziger Kampf gewesen waren. Und jetzt träumte sie auch noch so einen hausgemachten Blödsinn von ihm.

Verena seufzte und zog sich wie automatisiert Jeans, Pulli und Blazer über und steckte Zigarrettenschachtel und Feuerzeug ein. Dann fuhr sie sich noch einmal kurz durch die dunklen, langen Locken und ließ die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen.

Am Tatort angekommen, war die Spurensicherung bereits da, ein weißes Tuch lag über der Leiche und die Kollegen hatten einen Sichtschutz aufgestellt.
"Weiß man schon wer der Tote ist?, fragte sie den Kollegen Michels von der SpuSi.
Michels grinste und hielt ihr einen Personalausweis vor das Gesicht.
"Randolf Bock", las sie, geboren in Berlin am 1. August 1979. Das Passfoto zeigte einen unscheinbaren Mann mit fettigem Haar und teigigem Gesicht. Dann zog Michels kurz das Leichentuch zur Seite. Randolf Bock lag mit aufgerissenen, starren Augen auf der Seite, Blut sickerte ihm aus dem Mund.
"Wer hat die Polizei gerufen?", wollte sie wissen.
"Die ältere Dame dort", sagte Michels und wies auf eine kleine, hagere Frau von etwa 70 Jahren, die gerade auf dein paar Passanten einredete. Na, das kann ja heiter weiter, murmelte Verana, doch noch bevor sie sich entscheiden konnte, wenn sie zuerst befragen sollte, kam die Alte schon auf sie zu.
"Sind Sie von der Kripo? Na endlich, das wurde aber auch Zeit, ich hatte schon gleich so etwas im Gefühl als ich die beiden Männer ..."
"Wie heißen Sie?", schnitt Verena ihr das Wort ab.
Die 70-Jährige sah sie verwundert an: "Also, ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen, ...den, der ihn über den Balkon geschubst hat. Und ich hab noch gute Augen, richtig gute Augen, verstehen Sie?"
"Ja, ja, das glaube ich Ihnen, trotzdem würde ich gerne erst einmal Ihre Personalien aufnehmen. Ihren Ausweis bitte."
Die ältere Frau guckte erst etwas beleidigt, holte dann aber ihren Personalausweis hervor. "Magdalena Zöllner, ich wohne seit 50 Jahren in dieser Straße."
"Spandauer Brücke 12", las Verena und blickte sich um. "Wo genau ist denn die Nummer 12?"
"Na, dort", sagte Frau Zöllner und wies auf einen Plattenbau, der direkt gegenüber des Hotels lag.
"Ich wohne schon seit DDR-Zeiten dort, im fünften Stock, da bin ich direkt in Augenhöhe mit dem obersten Stock des Adinas. Aber wissen Sie, damals, da sah das noch ganz anders hier aus, und jetzt wird alles neu gebaut, wie das Hotel hier. Und überall die Touristen, ich muss Ihnen sagen, furchtbar. Letztens hat man mich in der Bäckerei sogar Englisch angesprochen, ist das noch zu fassen? Können Sie sich das vorstellen? Von den Schrippen, die man dort verkauft, will ich gar nicht sprechen! Ich weiß ja nicht, ob Sie auch aus dem Osten..."
"Frau Zöllner", unterbrach Verena sie scharf, "was genau haben Sie denn gesehen?"
"Ich sah einen Mann in das Hotel kommen, der mir schon mal verdächtig vorkam."
"Inwiefern verdächtig?"
"Na, wissen Sie, das hat man im Gefühl. Der sah so aus, als würde er dem Hartz-IV-ler folgen. Das kam mir ja schon spanisch vor."
"Hartz-IV-ler? Ein Arbeitsloser? Wie kommen Sie denn darauf?"
"Na, der Ermorderte. Gucken Sie sich den doch mal an, das ist kein Gast vom Adina. Die Gäste dort haben Geld. Die laufen nicht so herum wie der." Frau Zöllner, die eine weiße, gebügelte Bluse trug, verzog leicht das Gesicht.
Ja, dachte Verena, die Zeugin hatte insofern recht, als dass der Ermordete mit seiner ausgebeulten Cordhose und dem ausgefransten Pulli nicht gerade wie der typische Gast eines so schmucken Design-Hotels wie das Adina aussah.
"Was geschah weiter?"
"Na , drei Minuten später sah ich die beiden auf dem Balkon miteinander rangeln, und dann fiel der Hartz-IV-ler herunter und der Andere war plötzlich verschwunden."
"Und den Anderen haben Sie nicht wieder gesehen?"
"Nein. Ich war allerdings auch etwas aufgeregt..., habe meinen Fernseher ausgestellt und die Polizei angerufen. Dann bin ich gleich hinunter. Ich wusste ja nicht, ob der Hartz-IV-ler schon tot war."
"Ob der Tote tatsächlich staatliche Transferleistungen bezogen hat, wissen wir noch gar nicht, Frau Zöllner. Aber erzählen Sie bitte zu Ende."
"Als ich unten ankam, waren schon ein paar Angestellte aus dem Hotel da. Einer versuchte noch kurz, den Toten wiederzubeleben. So ein Blödsinn. Das hat doch ein Blinder mit dem Krückstock gesehen, das der mausetot war. Dann kam die Polizei und jetzt Sie"
"Gut, Frau Zöllner, was können Sie denn zum Verdächtigen sagen? Ein Aktenkoffer..."
"Ja, ja er trug einen Aktenkoffer und so einen dunklen Mantel. Groß war er, zumindest größer als der Ermordete."
"Das ist ja auch keine große Kunst, wenn der Ermordete gerade einmal 1,68 groß war" sagte Verena, als sie sich ihre Notizen machte.
"Ich kann mit Ihnen auf das Revier kommen und Ihrer Computerabteilung ganz genau beschreiben, wie der Kerl aussah. Dann können Sie so ein Bild machen..., so ein Porträt von ihm. Wie heißt das denn noch gleich?"
"Meinen Sie etwa ein Phantombild?"
"Ja, ganz genau, ein Phantombild."
Verena rollte innerlich mit den Augen und sagte:"Ich denke, das reicht vorerst."
Und als sie Magdalena Zöllners enttäuschten Blick bemerkte, fügte sie noch schnell hinzu: "Aber falls wir es benötigen, werden wir gerne auf Ihr Angebot zurückkommen, Frau Zöllner. Und falls Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, rufen Sie uns bitte an. Hier ist meine Karte."
Verena reichte ihr ihre Visitenkarte, wandte sich ab und ging zu einem ihrer Kollegen, André Haase, der gerade aus dem Eingang des Hotels kam.
"Und?", fragte sie ihn, während sie sich eine Zigarette anzündete.
Haase schüttelte den Kopf.
"Nichts", sagte er. "Der diensthabende Rezeptionist und die anderen Hotelangestellten wollen niemanden gesehen haben, der auffällig gewesen wäre."
"Und die Kollegen im Hotelzimmer, wie weit sind die?"
"Die Spusi ist noch dran, aber bis jetzt gibt es im Zimmer noch keine näherern Hinweise. Der Mörder und sein Opfer scheinen sich augenscheinlich nicht lange im Hotelzimmer aufgehalten zu haben. Möglicherweise haben sie sich auch gekannt."
"Möglicherweise", sagte Verena und zog nachdenklich an ihrer Zigarette. Sollte es tatsächlich keinen anderen Zeugen als Magdalena Zöllner geben?


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