Samstag, 4. Februar 2012

20. Kapitel: Martha, die Drachenbezwingerin

Martha hatte einen ganz leichten Akzent, der sich russisch ausnahm, und der als Deckung für ihre Rolle als Table Dancerin perfekt gewesen war. Das Vorurteil, dass es besonders viele osteuropäische Frauen in dieses Umfeld verschlug, war weit genug verbreitet.
„Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich als Tänzerin zu verdingen?“, fragte Verena, um Martha von ihrem erhöhten Stresspegel herunter zu holen.
„Nun, wie Sie vielleicht schon wissen, oder auch nicht, sind wir dem Drachen schon seit langem auf der Spur.“ Bei diesen Worten blickte sie Ari in der Vermutung, dass er wahrscheinlich zu viel erzählt hatte, wuterfüllt an.
„Wir wußten, dass es in der Kunstszene jemanden gab, der sogenannte entartete Kunst kaufte, um sie zu vernichten. Aber der Käufer blieb bei jeder Auktion anonym. In einem mitgehörten Telefonat mit einem Auktionär legte er seine Absichten jedoch offen und erklärte, dass ihm das Geld, das er dafür gebrauche egal sei, denn es sei ja sowieso nur Judengeld. Anhand der Stimme konnten wir ihn als einen Mann identifizieren, der über 90 und deutsch war, jedoch seit langem nicht in Deutschland gelebt zu haben schien. Sein Sprachgebrauch war veraltet, und er suchte manchmal nach Worten. Er nannte sich ‚Drache von Tarascon.‘ Anfragen bei französischen Behörden, ob es in Tarascon einen alten deutschen Einwohner gäbe, der vielleicht als Kunstsammler bekannt war, führten zu nichts.
Zur gleichen Zeit hatte Ari eine heiße Spur auf sein verlorenes Familienbild entdeckt, nach dem er seit langem suchte. Und als wir herausfanden, dass der Besitzer des Bildes in Geldnot war, hatte unsere Organisation eine Idee. Einige Mossad- Agenten streuten in gewissen Kunstkreisen die Nachricht, dass Konrad das Van-Gogh-Bild verkaufen wollte. Wir hofften, der Drache würde darauf reagieren und wir könnten sowohl das Bild zurückgewinnen als auch den Drachen schnappen.
Er hat ja auch reagiert, nur dann folgte das Dilemma mit den verwechselten E-Mail-Adressen. Als die Erpressermail von Randolf Bock eintraf, hatten wir zwar das Gefühl, dass es sich nicht um den Drachen handelte, aber wir mussten herausfinden, wer er war und ob er vielleicht mit dem Drachen unter einer Decke steckte. Da kam ich ins Spiel, als Tänzerin. Randolf hielt sich öfters in Table Dance Bars auf, da war es naheliegend über diesen Weg Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ich horchte auch seinen Kollegen und besten Freund aus. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie sich meinetwegen in die Haare kriegen würden. Aber letztlich war das auch egal. Als mir klar wurde, dass sie nichts mit dem Drachen zu tun hatten, zog ich mich zurück.
„Warum haben Sie uns nicht mit unseren Ermittlungen geholfen?“, fragte Verena. „Mit Ihrer Aussage hätten wir doch viel schneller herausfinden können, dass Kamm unschuldig war, und Sie müssen gewusst haben, dass Konrad als Auftraggeber des Mordes in Frage kam.“
„Oh ja, das wussten wir. Nur sehen Sie, wir waren nicht hinter Konrad her. Wir waren hinter dem Drachen her und mussten zum Zwecke des eigenen Auftrages unsere Deckung aufrecht erhalten.“
„Du hast also die ganze Zeit gewusst, wer der Mörder war, Ari?“, fragte Verena Ari.
Ari nickte.
„Du hättest Schauspieler werden sollen.“
„Da könnte ich nicht soviel bewirken.“, bemerkte Ari.
Verena dachte an seine ruhige und glaubwürdige Erscheinung als Fotograf und Privatdetektiv. Wie clever er sich in genau die Stühle gesetzt hatte, die in ihrem Leben leer waren. Der Stuhl ihres Kollegen Dennis, der Stuhl eines Partners... und wie aufopferungsvoll er ihr bei den Ermittlungen geholfen hatte, bis klar war, wo sich der Drache aufhielt. Da packte er seine Sachen und wollte sich aus dem Staub machen. Und sie hatte ihm helfen wollen. Wie unsinnig das war! 
„Du hattest nicht mal vor, dich zu verabschieden, oder? Als du deine Sachen für Tarascon gepackt hast.“
„Eigentlich nicht,“ erwiderte Ari, „aber ich hatte den Eindruck, dass du sowieso in Erwägung zogst, nach Tarascon zu fliegen, um bei der Festnahme von Konrad Bessi zu helfen. Da dachte ich, es wäre besser, wenn wir zusammen flögen. Ich wollte dich unterstützen und gleichzeitig meinen Auftrag ausführen. Aber als du nicht aufhörtest, mir eine Szene zu machen, habe ich meine Meinung geändert. Da habe ich mich nur noch auf meinen Auftrag besonnen.“
Verena war beleidigt und immer noch verärgert, aber sie versuchte, ihren Ärger herunter zu schlucken.
„Und was ist nun dein, oder Euer, Auftrag, wenn ich fragen darf?“
„Hast du es denn immer noch nicht begriffen?“, herrschte Martha sie an. „Wir sind hier, um den Drachen zu töten.“
„Ohne Festnahme, ohne fairen Prozess, ohne Urteil? Was bildet Ihr Euch eigentlich ein, wer Ihr seid?“
Martha lachte laut auf.
Wie viele faire Gerichtsprozesse gab es denn, um Nazis zur Rechenschaft zu ziehen? Simon Wiesenthal hat sein ganzes Leben dafür geopfert, einen einzigen, nämlich Eichmann, aufzuspüren und vor Gericht zu stellen. Wenn wir nicht hin und wieder noch welche erschiessen würden, wie viel Fairness gäbe es dann? Die ganze Welt hat zugeschaut, wie sich tausende Nazis in Argentinien ein sicheres Nest bauten und sich mit Nazigold den Schutz der argentinischen Regierung erkauften. Wir sind die einzigen, die für etwas Gerechtigkeit sorgen, die einzigen, vor denen sie noch Angst haben müssen. Erzähl‘ du mir nichts von Prozessen und Gerechtigkeit!“
Verena wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich, als ob sie nichts mit der deutschen Vergangenheit zu tun hatte. Das alles hier hatte nichts mit ihr zu tun und nichts mit ihrem Heimatland, an dessen Justizsystem sie glaubte. Aber Martha, die noch viel jünger war als sie, hatte offensichtlich persönliche Motive. Für Martha und Ari war diese Mission persönlich.
„Du hast keine Ahnung, wie es ist, in einer Familie aufzuwachsen, in der beide Elternteile alle Angehörigen in KZs verloren haben.“, fügte Martha leise und wütend hinzu. „Du trägst keine Schuld, das ist schon richtig, und du sagst auch nicht, dass du es toll findest, was deine Großeltern gemacht haben. Aber du hast etwas, was ich nicht habe: eine vollständige Familie. Und dafür hasse ich dich.“
Da war es also: ihr persönliches Motiv.
Ari schaute Verena fast entschuldigend an. Auch er hatte seinen persönlichen Motive. Der alte Bessi und der Drache waren Aufseher gewesen, unter denen seine Eltern zu leiden hatten, aber er ging nicht so weit, Verena dafür zu hassen.
Plötzlich raste ein Auto an ihnen vorbei.
Es war das Auto des Drachen.
Ari und Martha schauten sich eine Sekunde lang an, dann trat Ari aufs Gaspedal und fuhr hinterher.
Wenige Sekunden später schauten zwei maskierte Männer aus den hinteren Fenstern des Fluchtautos und fingen an, auf das Verfolgerauto zu schiessen.
Martha ergriff eine Handpistole unter ihrem Sitz und schoss zurück. Verena hielt sich geduckt auf dem Rücksitz. Mehrere Kugeln flogen in der Dunkelheit an ihren Zielen vorbei. Dann passierte es. Es knallte. Verenas Auto kam ins Schleudern. Ari konnte es nur mit Mühe und Not abseits der Strasse, auf brach liegendem Feld zum Stehen bringen.
Ari und Martha stiegen aus.
„Scheiße!“, rief Martha.
Gemeinsam mußten Ari, Martha und Verena mit anschauen, wie der Drache mit seinen zwei Handlangern aufs Rollfeld vorfuhr. Sie stiegen aus und rannten an Bord eines kleinen Privatjets.
Martha lief zum Kofferraum und holte ein Maschinengewehr heraus.
Dann lief sie los, in die Dunkelheit hinaus.
Der Jet startete. Er rollte los. Er hob ab.
Als er bereits etliche hundert Meter vom Boden entfernt war, hörte Verena eine Salve an Schüssen. Das Flugzeug explodierte in der Luft.
In dem gleißenden Licht, das die Explosion auslöste, schauten sich Verena und Ari an. In seinen blauen Augen flackerten aufrichtiges Bedauern, Intimität und Fremdheit. Eine vertraute, warme Schwingung kam von ihm zu ihr herüber, erfror aber in der Berührung mit einem Störsignal. Es war ein Abschied. Er nickte ihr zu und verschwand dann ebenfalls in der Dunkelheit.

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