Samstag, 4. Februar 2012

19. Kapitel: Die letzte Kugel

Verena sah sich im Garten um. Das Feuer war dabei, herunterzubrennen, spendete aber immer noch sehr viel Licht in der Dunkelheit. Es war mittlerweile nach 21 Uhr.
Die Bilder waren nicht mehr zu retten. Sie begutachtete flüchtig deren Reste und konnte nicht fassen, was hier gerade für ein Wert verloren gegangen war.
Sie lief zu der Stelle, an der sie ihre Waffe hatte fallen lassen und hob sie auf. Es war nur noch ein Schuß darin,  und sie hatte keine Patronen dabei. Nur mit viel Überredungskunst und Sondergenehmigung hatte sie die Waffe und ihr Messer ins Flugzeug nach Frankreich mitnehmen dürfen, im eingecheckten Koffer. Ihr Messer fand sie nicht mehr.
Mit einem Mal hörte sie Geräusche im Schloss. Ein maskierter Mann erschien an einem Fenster im ersten Stock, zielte mit einer Pistole auf Verena und schoss. Die Kugel verfehlte ihr Ziel. Verena geriet in Panik und rannte hinunter zum Fluss. Sie versuchte, sich vom Licht des Feuers zu entfernen, damit der Schütze sie nicht sehen konnte. Glücklicher Weise gab es einige Büsche, hinter denen sie eine kurze Pause machen konnte, aber sie wußte, dass sie dort nicht lange sicher war. Der Schütze hatte ganz offensichtlich Patronen im Übermaß. Er schoß wahllos in ihre Richtung. Sie mußte weg, nur leider war ihr der Rückweg zum Auto durch den Kugelhagel abgeschnitten. In der Dunkelheit erkannte Verena, dass am Ufer der Rhône ein kleiner Steg ins Wasser führte, und hinter dem Steg schaukelte etwas im Wasser. Ein Motorboot. Verena stürzte darauf zu. Sie sprang in das Boot und versuchte den Motor zu starten. Noch nie zuvor war sie ein Motorboot gefahren. Sie bekam den Motor nicht zum Laufen. Erst als sie den Schützen schon den Rasen zwischen Schloß und Rhône überqueren sah und ihr Adrenalinspiegel die innere Schallmauer durchbrach, startete er plötzlich wie von Wunderhand, und sie steuerte davon.
Zunächst fuhr sie ohne Ziel flußaufwärts. Ihr Puls raste. Sie mußte sich anstrengen, etwas zu sehen. Nach einer Weile zog sie ihr Handy aus der Tasche und versuchte sich an der landesweiten Rufnummer der französischen Polizei, aber sie hatte keinen Empfang. Ihr deutsches Handy stürzte beim  Aufbau der Rufnummer immer wieder ab.   
Als sie unter einer Brücke hindurch fuhr, sah sie auf der Brücke ein Schild, das ein kleines Flugzeug zeigte. Unter dem Schild stand: 800m. Sollte es in dieser Gegend einen Flughafen geben? Es konnte kein großer, öffentlicher sein, das wußte Verena, aber vielleicht ein kleiner, privater? Und wenn es einen gab, war er dann nicht das perfekte Ziel für den Drachen?
Verena stellte den Motor aus und ließ sich mit der verbliebenen Schubkraft an eine seichte Uferstelle anschwemmen. Sie sprang aus dem Boot, nicht ohne nasse Beine davonzutragen, und kämpfte sich die Uferböschung hoch. Auf der Brücke angekommen, folgte sie dem Schild.
Sie lief ungefähr zehn Minuten eine leicht ansteigende  Landstrasse entlang, die beiderseits von Weinanbau umgeben war. Ab und zu ragten kleinere oder größere Hügel auf. Als Verena den höchsten Punkt der Strasse erreichte, sah sie in der Ferne einen durch Scheinwerferlicht erleuchteten Platz. Es war in der Tat ein kleiner Flughafen. Im Scheinwerferlicht erkannte Verena vier Privatjets, eine Lande- und Startbahn, ein winziges Gebäude. Das ganze Areal wurde von einem Drahtzaun umsäumt. In der sonst so ländlichen Gegend sah der Platz nahezu futuristisch aus, obwohl Zaun, Landebahn und Gebäude etwas vernachlässigt wirkten. 
Verena bog rechts in die einzige Zufahrtstrasse zum Flugplatz ab. Das Weinanbaugebiet lief hier aus. Nach etwa 100 Metern endeten die Weinstreben und Brachland schloss sich an. Als Verena den letzten mit Wein angebauten Hügel passierte, näherte sich ihr plötzlich jemand von hinten.
Sie tastete nach ihrer Waffe, drehte sich um und schoss.
„Au, verdammt. Verena, was machst du?“
Es war Ari.
Verena erschrak.
Er hielt sein Ohr fest.
„Du hast mich am Ohr getroffen.“
„Das tut mir so leid, oh Gott, ich dachte ich würde von einem Drachenhelfer verfolgt. Was machst du denn hier?“, fragte sie angsterfüllt.
„Wir haben den Drachen verloren und verstecken uns hier, um ihn abzufangen, wenn er versucht, mit seinem Privatjet zu fliehen. Es ist die einzige Zufahrtstrasse. Er muss hier vorbeikommen.“
„So etwas in der Art habe ich auch gedacht.“, gab Verena zu. Sie riss sich ein Stück vom Pullover ab und gab es Ari. Er hielt sich den Stoff an sein Ohr. Einen Moment lang pausierte er, dann atmete er einmal tief durch.
„Hat Konrad Bessi überlebt?“, fragte er.
„Ja,“ antwortete Verena. „Er hat Verbrennungen erlitten, aber er überlebt. Er hat sogar den Auftragsmord gestanden.“
„Dann ist deine Aufgabe abgeschlossen und du kannst nach Hause fliegen, oder?“, fragte Ari.
„Eigentlich schon.“ Verena fragte sich, warum sie es nicht wirklich tat.
„Du brauchst dich um den Drachen nicht zu kümmern. Um den kümmern wir uns.“
„Wie meinst du das? Willst du damit sagen, Ihr zieht die Sache hier im Alleingang durch, ohne die französischen Behörden zu informieren?“
Ari verstummte. Dann fragte er, ohne Verenas Frage zu beantworten:
„Was ist mit den Bildern?“
„Verbrannt.“
Ari schaute zu Boden.
„Du hast gesagt, das Bild bedeutet dir nichts, obwohl es deiner Familie gehört hat. Aber das stimmt nicht, oder? Du hättest es gern wieder gehabt.“
„Ich hätte es gern noch einmal gesehen, ja.“
„Hey, was ist passiert, Ari? Woher kam der Schuß?“, unterbrach eine junge Frauenstimme die Konversation. Linda stand plötzlich neben ihnen.
„Es ist alles in Ordnung, Martha.“, antwortete Ari.
„Ich glaube, Ihr kennt Euch bereits: Verena, Martha.“ Aris Hände deuteten bei seinen Worten eine Vorstellungsgeste an.
„Ich habe bisher den Namen Linda mit Ihnen verbunden.“, konstatierte Verena.
„Ja, den Namen habe ich benutzt,“ erklärte Martha. Sie gab Verena widerwillig die Hand.
„Verena hat mich aus Versehen angeschossen,“ erklärte Ari, mit dem fragenden Blick von Martha konfrontiert.
„Im Auto ist Verbandszeug,“ erwiderte Martha und wies den Weg. Verena erkannte alsbald die Umrisse eines Autos, das hinter dem letzten Weinhügel versteckt stand.
Gemeinsam schritten sie zum Auto.
Als Martha Ari verarztet hatte, öffnete Ari die hintere Autotür und ließ Verena einsteigen.
Der widerwillige Gesichtsausdruck von Martha verzog sich zu Verärgerung und Unverständnis. Sie belegte Ari, der seine Position am Steuer einnahm, während sie auf der Beifahrerseite einstieg, mit einem Schwall an Vorwürfen, die Verena allerdings nicht verstand. Martha machte sich auf Hebräisch Luft.
Intuitiv meinte Verena zu verstehen, dass sie Ari dafür schalt, Verena nicht wegzuschicken sondern sie ins Auto einsteigen zu lassen. Und Ari zuckte die Schultern und fragte, was ihm anderes übrig bliebe.
„Sie wollen mich nicht dabei haben, richtig?“, wandte sie Verena an Martha.
„Richtig.“, erwiderte Martha auf deutsch.

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