Dienstag, 31. Januar 2012

17. Kapitel: In letzter Minute



Verena trat so heftig aufs Gaspedal, dass das Auto einen Satz machte. Sie hätte jetzt viel darum gegeben, in ihrem eigenen Auto zu sitzen. Dieses Mietauto kam einfach nicht auf Touren. „Verdammter Mist!“, fluchte sie, krallte sich am Lenkrad fest und starrte angestrengt geradeaus, als könne sie damit aus dem Auto noch mehr herausholen. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät!
„Konrad!“, schrie Martin. „Meinen Sie, er ist da drin?!“
Verena hielt es für Zeitverschwendung, darauf zu antworten.
„O Gott! Fahren sie doch schneller!“ Martin war in Panik, es hielt ihn kaum auf dem Sitz. Ständig fuchtelte er wild gestikulierend vor ihrem Gesicht herum. „Da! Sehen Sie doch! Das Feuer wird immer größer!“, lamentierte er. Nun fing er auch noch an zu weinen.
„Reißen Sie sich zusammen! Ich brauche jetzt Ihre Hilfe. Und nicht noch einen, um den ich mich kümmern muss!“, fauchte Verena ihn an.
Das saß. Martin war augenblicklich still.
Jetzt konnten sie bereits die Konturen des Schlosses erkennen, das sich, von den Flammen gespenstisch erhellt, wie eine mittelalterliche Trutzburg aus der Dunkelheit hervorhob.
„Das Feuer ist im Hof!“, rief Verena. „Schnallen Sie sich ab. Wir müssen da so schnell wie möglich rein!“
Sie flogen die Auffahrt hinauf. In letzter Sekunde bremste Verena, fast wären sie an das massive Stahltor geknallt, was vermutlich ihr Ende gewesen wäre. Im Nu sprangen Martin und sie aus dem Auto. Ein beißender Brandgeruch wehte ihnen in die Nasen. Verena rannte zum Tor und sah sofort, dass sie gar nicht erst versuchen brauchten, es auf zu bekommen. Kein Knauf, keine Verzierung, kein Schlüsselloch, nur eine einzige glatte Metallfläche, mindestens drei Meter hoch. Vermutlich funktionierte die Schließanlage elektronisch.
„Das ist ja der reinste Sicherheitstrakt“, fluchte sie.
Die Mauern, die sich rechts und links des Tores anschlossen, waren nicht niedriger.
Und dann hörte sie die Schreie. Sofort bekam sie eine Gänsehaut. Martin, der sich bisher still hinter ihr gehalten hatte, fing sofort wieder an, durchzudrehen. „Das ist Konrad!“, schrie er, und brüllte gleich darauf aus Leibeskräften: „Konrad! Wir kommen!!“
Blitzschnell drehte Verena sich um und hielt ihm rabiat den Mund zu. „Sind Sie komplett verrückt geworden?“, zischte sie, „wenn Sie nicht sofort still sind, schlage ich Sie nieder!“
Martin nickte. Sie ließ ihn los.
„Wir müssen es über die Mauer versuchen. Kommen Sie hier entlang. Schnell! Und Vorsicht!“ Der Boden unter ihnen war glitschig. „Stellen Sie sich nah an die Mauer. Ich steige auf Ihre Schultern. Vielleicht kann ich mich dann hochziehen.“
Die schrecklichen Schreie, die beständig durch die Nacht halten, und kaum noch als menschlich zu bezeichnen waren, zerrten an ihren ohnehin überreizten Nerven. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, kletterte an Martin empor und streckte sich. „Ein kleines Stück noch“, flüsterte sie. „Versuchen Sie sich auf die Zehenspitzen zu stellen!“ Martin stöhnte. Doch als Verena endlich ihre Hand auf die obere Kante der Mauer legte, an die sie gerade so heranreichte, bekam sie einen heftigen Stromschlag. In einem Satz sprang sie wieder von den Schultern ihres Begleiters herunter und landete der Länge nach im Matsch. Und dann ging alles sehr schnell. Scheinwerferlicht blendete sie. Und schon quietschten die Bremsen eines Autos.
„Runter! Auf den Boden!“, schrie Verena. Martin warf sich hin. Wieder ertönten die schrecklichen, durchdringen Schreie Konrads aus dem Schlosshof.
„Verena! Bist du es?“ Das war Ari! Er stürzte aus dem Auto auf sie zu. Hinter ihm tauchte eine Frau auf.
„Ihr bleibt liegen“, befahl Ari, „wir sprengen jetzt das Tor.“ Seine Begleiterin rannte zum Auto zurück und im Scheinwerferlicht glaubte Verena zu erkennen, dass es sich um Linda handelte. Ari und sie hievten ein Paket mit diversen herab hängenden Schnüren aus dem Auto und näherten sich dem Stahltor. Doch genau in dem Moment, als sie ihre Sprengladung anbringen wollten, schwebte das schwere Tor wie von Geisterhand gehoben in die Höhe, und ein Landrover schoss daraus hervor. Mit einem gewagten Schlenker umrundete er auf der Auffahrt Verenas und Aris Auto, erreichte die Straße und machte sich davon.
„Los!“, schrie Ari, „das ist er!“, sprang mitsamt seiner Begleiterin ins Auto zurück und setze dem Landrover nach.
Verena handelte automatisch. Sie sprang auf, zückte ihre Waffe und rannte so schnell sie konnte, auf das schwebende Tor zu, dass sich bereits wieder langsam nach unten bewegte.
Auf alles gefasst stürzte sie in den Hof. Dort bot sich ihr ein schreckliches Bild. Inmitten eines riesigen Feuers, das sich von vier Seiten auf ihn zubewegte, stand ein Mann an einen Pfahl gefesselt. Dicker, schwarzer Rauch umgab ihn. Seine Schreie waren verstummt, sein Kopf hing kraftlos nach unten. Verena holte tief Luft, ließ ihre Waffe fallen, raste auf die Mitte des Feuers zu, im Laufen holte sie ihr Messer aus der Tasche, klappte es auf, zerschnitt die Fesseln des Mannes und schleppte mit letzter Kraft den schlaffen Körper aus den Flammen heraus.
Dann brach sie zusammen.

Wenig später zeigte sich, dass es ein Glück gewesen war, Martin mitzunehmen. Er hatte es tatsächlich gerade noch so durchs Tor geschafft. Nun trat er in Aktion. Zuerst schlug er das Feuer aus, das Verenas Jacke erfasst hatte. Dann rannte er zum Fluss, der sich durch den Schlosshof zog, tauchte seine Jacke ins eiskalte Wasser, kam damit zu Verena und Konrad zurück und rieb ihnen die Gesichter mit dem nassen Stoff ab, was dazu führte, dass Verena langsam wieder zu sich kam. Als nächstes fühlte er Konrads Puls, stellte fest, dass noch Leben in ihm war, und telefonierte augenblicklich nach einem Krankenwagen. In Verenas Geist drangen all diese hektischen Aktivitäten nur sehr verschwommen. Aber sie nahm sich vor, Martin später dafür zu danken. So viel Umsicht hatte sie ihm gar nicht zugetraut. Seine Meisterleistung jedoch bestand darin, dass er, als er eine bewaffnete Gestalt aus dem Schloss auf sich und die beiden Liegenden zukommen sah, Verenas Waffe griff und schoss.
Er traf den Schergen des Drachen zwar nur ins Knie. Aber das reichte, um ihn ungefährlich zu machen.
Verena setzte sich auf, hustete, sah zu dem Mann hinüber und erkannte, dass er versuchte, sein Gewehr zu erreichen, das ein paar Meter vor ihm lag.
„Ich – ich habe einen Menschen erschossen“, stotterte Martin. „Oh Gott, ich habe einen Menschen erschossen!“
„Der ist ziemlich lebendig“, gab Verena trocken zurück. „Los, lauf!“ und als Martin nicht reagierte, schrie sie: „Sieh zu, dass er sein Gewehr nicht kriegt, du Idiot!“
Und selbst das schaffte Martin noch. Als er mit dem Gewehr zurück kam, lächelte er stolz.
„Für den Idioten entschuldige ich mich“, sagte Verena. „Das haben Sie wunderbar gemacht.“
Und dann hörten sie von der Straße her die Sirenen des Krankenwagens.

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