Sonntag, 22. Januar 2012

11. Kapitel: Schatten der Vergangenheit

„Wer ich bin?“, fragte der Drache und lachte.
Konrad Bessi war unheimlich zumute.
„Kennen Sie die Legende vom Drachen von Tarascon?“, fragte der Drache wieder.
„Nein.“, erwiderte Konrad.
„Nun, ich will sie Ihnen erzählen. Der Drache von Tarascon, oder auch Tarasque genannt, ist der Legende nach ein Ungeheuer, das einst hier am Ufer der Rhône sein Unwesen trieb. Er verschlang Wanderer auf dem Weg in die Stadt, aber auch Bauern und Jungfrauen, bis die Jungfrau Martha ihn bezwang. Noch heute ist er ein Wahrzeichen der Stadt und in dessen Wappen abgebildet.
Ich nehme mir den Drachen zum Vorbild. Bildlich sozusagen. Ich verschlinge Bilder. Und welches Bild, wenn nicht „der Maler auf dem Weg nach Tarascon“ würde dieser Bildlichkeit größeren Ausdruck verleihen?“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Konrad, sichtlich verwirrt.
„So wie ich es gesagt habe. Ich werde Ihr Bild verschlingen, zu Deutsch: vernichten.“
„Sie bezahlen mir drei Millionen Dollar für ein Bild, das Sie vernichten wollen?
„Nein, nicht drei. Eine. Mehr als die Million, die Sie bereits von mir erhalten haben, bekommen Sie nicht. Und diese Million ist es mir wert.“
Konrad schaute ungläubig. So langsam entpuppte sich der Haken an der Geschichte.
„Mein lieber Konrad, Sie wissen doch um unsere Vergangenheit. Wer, wenn nicht Sie? Das Bild, das Sie mir gebracht haben, ist künstlerisch nichts wert. Es wurde vor 70 Jahren in einer Ausstellung entarteter Kunst gezeigt und hat diesen Status bis heute nicht verloren. Ich dachte Sie wüßten, dass das, was Sie da die ganze Zeit im Schlafzimmer zu hängen hatten, keine Kunst ist, sondern Dreck.“
„Ich finde, dass es das schönste Bild ist, das ich jemals sah.“, erwiderte Konrad geschockt.
„Ich hatte es so lange im Schlafzimmer hängen, weil ich es eigentlich nicht verkaufen wollte. Und ich will es mit Sicherheit an niemanden verkaufen, der es vernichten will.“
„Das ist Schade.“, antwortete der Drache. „Ich dachte, Sie und ich wären aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ich dachte, Sie würden die Ansichten Ihres Vaters teilen. Daher war ich auch willens, Ihnen wenigstens eine Million Entschädigung für das Bild zu bezahlen. Aus Respekt Ihrem Vater gegenüber. Aber nun sehe ich, dass Sie nichts mit ihm gemeinsam haben. Schade. Was mache ich jetzt mit Ihnen?“
Der Drache lief unschlüssig auf und ab.
Plötzlich nahm er seine Maske ab. Es erschien das Gesicht eines alten, ungefähr 90-jährigen Mannes. Ein dünnes Gesicht mit schlaffer Haut aber stahlblauen, unnachgiebigen  Augen. 
Konrad sah sich um. Der Rückweg war abgeschnitten. Das einzige Tor nach draußen verschlossen. Die Mauern waren dick.
Abschätzend richtete der Drache seinen Blick auf ihn.
„Schauen Sie sich doch einmal an, ängstlich, verweichlicht, verwöhnt. Sie haben keinen Schimmer von deutscher Kultur, deutscher Geschichte, deutschem Erbe. Sie sind ja nicht einmal ein richtiger Mann. Ihr Vater muss sich so für Sie geschämt haben!“
„Was wissen Sie schon von meinem Vater?“
„Ich weiß, dass er Männer wie Sie in einen Häftlingsanzug mit rosafarbenem Aufnäher steckte. Er war nämlich Lagerverwalter des KZ Mauthausen. Und ich weiß, dass er dafür reichlich mit Nazigold entlohnt wurde. All das Geld, das Sie verspielt und verfeiert haben, hatte er sich redlich verdient, so wie ich meines.“
„Wenn das stimmt, bin ich froh, das Geld los zu sein.“, sagte Konrad leise.
Der Drache lachte laut auf.
„Sie werden nicht nur Ihr Geld los sein, sondern auch Ihr Leben, wenn ich mit Ihnen fertig bin. Ihr Vater mag unfähig gewesen sein, Ihnen die Leviten zu lesen. Ich bin’s nicht. Aber zuerst werden Sie zuschauen, wie ich diese Bilder hier in die Flammen werfe. Nur auf Ihres habe ich noch gewartet. Das letzte in der Tarasconschen Sammlung. Das wird ein Fest! Eine Bilderverbrennung!“
Der Drache schnipste mit den Fingern, und zwei Bedienstete traten ein.
„Bringt ihn in den Keller!“, befahl er ihnen.
Konrad versuchte sich zu wehren, aber er hatte keine Chance. Die Männer packten ihn, untersuchten seine Taschen, nahmen ihm sein Handy ab und schleppten ihn aus der Bibliothek, in einen Gang, mehrere Treppen hinunter. Sie schlossen ein Gittertor auf und stießen ihn in einen alten Kerker. Dann verriegelten sie das Tor wieder und verschwanden.
Konrad stand im Dunkeln. Langsam ließ er sich nieder und verharrte für einige Minuten reglos. Er sass angespannt, mit angezogenen, umarmten Beinen. Als sich seine Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm der die kleinen Schatten krabbelnder Tiere wahr. Kakalaken.
„Oh Gott, Martin, bitte geh‘ zur Polizei,“ murmelte er nur.

Martin machte sich in der Tat Sorgen.  
Er versuchte mehrmals Konrad anzurufen und schickte mehrere SMS. Keine Antwort. Etwas stimmte nicht. Da war er sich sicher. Bereits am zweiten Tag nach Konrad’s Abreise hatte er ein schlechtes Gefühl und überlegte, ob er wirklich noch einen Tag abwarten sollte oder nicht.
Schließlich ging er zur Polizei.
Auf der Polizeiwache wurde er an eine junge Beamtin verwiesen.
„Sie möchten eine Vermißtenanzeige aufgeben?“, fragte ihn die Beamtin.
„Ja. Die Sache ist etwas kompliziert. Ich möchte meinen Freund Konrad Bessi als vermißt melden. Aber ich weiß, dass er nach Südfrankreich geflogen ist, um ein wertvolles Bild von Vincent van Gogh zu verkaufen. Illegal zu verkaufen. Es heißt ‚Maler auf dem Weg nach Tarascon‘. Er hat das Bild bei sich. Dass er sich nicht meldet und noch nicht wieder zurück ist, läßt darauf schließen, dass ihm etwas passiert ist.
„Wissen Sie, wo in Südfrankreich er den Käufer besuchen wollte?“
„Tarascon.“
Die junge Beamtin überlegte. Dann sagte sie:
„Ich denke, wir werden hier noch andere Behörden einschalten müssen.“
Sie stand auf und verständigte einen weiteren Kollegen, der interessiert zu Martin herüber blickte.
Dann griff er zum nächsten Telefonhörer.

Konrad musste zwei Tage in seiner Zelle ausharren. Ihm wurden Wasser und Nahrung gereicht, aber er durfte nicht ans Licht.
Schließlich besuchte der Drache ihn. Er brachte eine Öllampe mit, die er auf dem Boden vor Konrads Zelle abstellte. In dem schummrigen Licht, erklärte ihm der alte Mann, der wieder ganz in Weiß gekleidet war:
„Sie dürfen jetzt duschen, Ihre Sachen wechseln und an die frische Luft. Ich habe im Garten, am Ufer der Rhône, alles vorbereitet. In zwei Stunden wird das große Lagerfeuer beginnen.“

Konrad wurde, überwacht von den beiden Handlangern des Drachen, in ein Zimmer im dritten Stockwerk geführt, wo er sich duschen und umziehen durfte. Als er aus dem Fenster schaute, traute er seinen Augen nicht. Dort unten im Garten, am Flussufer, war ein großes Gebilde aus Strohballen und Kleinholz in Form eines Hakenkreuzes aufgebaut. An den vier Enden stand jeweils ein Bild auf einer Staffelei. Die vier Bilder standen dort wie auf Scheiterhaufen. Und ganz in der Mitte stand ein Pfahl. Konrad durchzuckte ein Angststoß. Der Drache wollte ihn doch nicht allen Ernstes mit den Bildern verbrennen?


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