Donnerstag, 26. Januar 2012

13. Kapitel: Die Milonga

Ein beredtes Schweigen entstand. Sekundenlang wagte keiner von Beiden etwas zu sagen. Verena wusste, dass Ari ihr jetzt nicht die ganze Wahrheit sagen würde, dass sie ihm noch Zeit geben musste. Andererseits beunruhigte sie, dass Konrad Bessi spurlos verschwunden war und sogar die argentinische Polizei nach ihm fahndete. Und auch dieser "Drache von Tarascon" - sollte es  diesen mysteriösen Menschen tatsächlich geben, wie Ari behauptete? Falls ja, dann könnte sich Konrad Bessi vielleicht unwissend in Gefahr gegeben haben. Sollte der Drache ihn etwa entführt haben? Blödsinn, Verena, sagte sie innerlich zu sich selbst. Das ist doch absolut an den Haaren herbeigezogen. Außerdem verschwinden jeden Tag Menschen, die zu feige sind, sich aufrichtig von ihren Lebenspartnern zu trennen. Die dann behaupten, Zigaretten holen zu wollen und auf Nimmerwiedersehen aus dem Leben ihrer zurückgelassenen Partner verschwinden. Vielleicht war dieser Bessi ja auch so ein Kaliber. A pro pos Zigaretten, es war wieder einmal an der Zeit, zu rauchen, dachte Verena. Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und kramte nach ihrem Feuerzeug. Verflixt, wo steckte denn nun wieder ihr Feuerzeug?
"Darf ich?", fragte Ari, während er ihr ohne eine Antwort abzuwarten Feuer gab.
Verena seufzte. Es brauchte nicht mehr lange und dieser Mann würde auch die letzten Mauern ihres Widerstandes zum Einstürzen bringen. Und was dann geschehen würde, darüber wagte sie gar nicht erst nachzudenken.
"Danke", sagte sie und bemühte sich um einen besonders sachlichen, knappen Tonfall in der Stimme. Doch wahrscheinlich hatte er sie längst durchschaut.
"Haben Sie eingentlich schon einmal Tango getanzt?", fragte er sie.
"Tango? Ich? Nein, ich kann überhaupt nicht tanzen", wehrte Verena ab.
"Wie können Sie das wissen, wenn Sie es noch nie versucht haben?". Er grinste sie an.
"Außerdem führt beim Tango in der Regel der Mann, die Frau muss ihm nur folgen, dazu braucht sie gar keine begabte Tänzerin zu sein."
"Ach ja? Das klingt ja sehr nach Macho-Tum."
"Das mögen einige Menschen so sehen. Tatsächlich lieben gerade die Berliner, insbesonderne die Berlinerinnen den Tango mehr als allen Anderen."
"Ist das so?"
"In der Tat. Berlin ist nach Buenos Aires die weltweit zweite Tango-Hochburg. Und europaweit steht die deutsche Hauptstadt auf Platz Eins."
Verena war erstaunt. Gleichzeitig merkte sie, wie es wieder in ihr zu kribbeln begann.
"Kommen Sie", sagte Ari, "ich bezahle und dann fahren wir auf eine der schönsten Milongas  von ganz Berlin."
"Ich weiß nicht..."
"Na, kommen Sie schon. Wenn es Ihnen nach den ersten drei Tänzen dort nicht gefällt, fahre ich Sie sofort nach Hause oder in ihr Büro, wo immer Sie dann hinwollen?"
"Drei Tänze?", fragte Verena irritiert. "Warum drei und nicht einer?"
"Seine Tanzpartnerin nach dem ersten Tango stehen zu lassen, gilt als unhöflich. Daher fühlen sich die Tangueros verpflichtet, mit jeder Tanzpartnerin drei Tänze zu tanzen."
"Meinetwegen,  ich versuche es. Aber ich werde Ihnen nichts versprechen. Und wenn es mir dort missfällt, gehe ich umgehend wieder. Sofort. Verstehen Sie?"
"Claro", erwiderte Ari und seine Augen funkelten vor Freude.

Eine halbe Stunde später parkten sie mitten in Wedding auf einem großen Hinterhof.
"Hier soll Tango getanzt werden?", fragte Verena ungläubig.
"Ja, ich habe schon gehört, dass Wedding nicht so einen guten Ruf hat. Auch der Tango war einst verrufen, bevor er salonfähig wurde", sagte Ari, während sie in einem alten Fabrikgebäude drei Etagen hochstiegen und sich plötzlich in einer großen Halle widerfanden, in dem Duzende von Tanzpaaren in grazilen Posen voll verhaltener Erotik miteinander tanzten. In der Mitte des Raumes stand ein alter Klavierflügel, und überall an den Fabrikfenstern standen brennende Kerzenleuchter, während aus den Lautsprechern die melancholischen Klänge eines Bandoneons ertönten.  Verena spürte, wie sie unwillkürlich in den Bann dieser ganz besonderen Atmosphäre gezogen wurde. Gleichzeitig fühlte sie sich ein wenig fehl am Platz. Während sie selbst Jeans und Blazer trug, waren alle anderen Frauen in schöne Kleider oder schwingende Röcke gekleidet. Andere Frauen wiederum trugen zart flatternde, seidige Haremshosen, die an der Seite über einen raffinierter Einschnitt verfügten, der bei jeder Tanzbewegung  kurze Einblicke auf die grazilen Oberschenkel der jeweiligen Tänzerin gewährten.
"Sollen wir", fragte Ari und zog sie sanft auf die Tanzfläche. Er umfasste sie zart, aber spürbar. Zunächst noch starrte Verena unsicher auf ihre Füsse, doch Ari ermahnte sie:
"Nicht nach unten schauen. Sehen Sie auf mein Schlüsselbein und spüren Sie meine Bewegungen."
Anfangs noch etwas verkrampft, aber mit jedem Schritt, mit jeder Bewegung, zu der sie Ari ganz ohne Worte verleitete, fügte sie sich besser in den Takt ein und wurde immer sicherer. Wie von Zauberhand geführt, folgte Verena Aris eleganten Bewegungen in völligem Gleichklang. Sie spürte, wie sie den Tango, vor allem aber Ari mit all ihren Sinnen aufsog. Wie sie seine Wärme spürte, wie sie seinen herb-holzigen Geruch in sich einsog,  wie sie seine Berührungen genoss.
"Was ist das für ein Tango?", fragte sie Ari und deutete auf das Pärchen neben ihnen, das die Köpfe und Oberkörper aneinander geschmiegt sehr eng miteinander tanzte.
"Das ist die innige Umarmung, sie nennt sich Tango de Salon."
Und als habe er ihre Sehnsucht geahnt, zog jetzt auch Ari sie ganz eng an sich und Verena fühlte, wie sie  miteinander verschmolzen. Zu ihrer eigenen Überraschung gelangt es ihnen, trotz der großen physischen Nähe weiterhin synchron miteinander zu tanzen.

Sie mussten sehr lange so innig umarmt miteinander getanzt haben, bis sie auf einmal bemerkten, dass sie nunmehr das letzte Tanzpaar auf dieser Milonga waren.
"Ich fürchte, irgendwann wollen die Besitzer des Tango-Lofts auch einmal schlafen gehen ", flüsterte Ari.
"Nein, Ari, lass mich nicht los, bleib diese Nacht einfach nur mit mir zusammen, bitte."
Ari sah Verena erst etwas überrascht, dann voller Wärme in die Augen.
"Natürlich", erwiderte er heiser. "Was könnte ich auch anderes tun?!"


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