Dienstag, 3. Januar 2012

Kapitel 9: Der Besuch beim Drachen

Das Vorsprechen im Theater für die Rolle des Revisors lief miserabel.
„Sie müssen mehr Witz in Ihre Rolle bringen, sonst wird das Stück langweilig!“, forderte der Regisseur Konrad auf.
Konrad gab sich Mühe, aber er war nicht witzig, und er fühlte sich auch nicht so.
Als er das Theater nach dem Vorsprechen verließ, wußte er, dass er die Rolle nicht bekommen würde.
Er war enttäuscht, schob die Enttäuschung aber von sich:
‚Vielleicht ist es besser so. Ich habe den Kopf sowieso gerade mit wichtigeren Dingen voll. Hoffentlich ist das Geld da!‘, sagte er zu sich selbst.
Langsam lief er zur Western Union Bank. Wenn alles gut ging, lag dort eine Menge Geld für ihn bereit. Der „Drache von Tarascon“ hatte es ihm einen Tag zuvor telefonisch versprochen.
Konrad hatte ihn angerufen und dieses Mal ganz augenscheinlich den richtigen Kaufinteressenten kontaktiert.
„Qui?“ hatte dieser mit einer alten Raucherstimme in den Hörer gesprochen.
„Bessi hier,“ hatte Konrad geantwortet. „Sie haben mich wegen des Bildes kontaktiert.“
„Warum melden Sie sich erst jetzt?“ frage die Raucherstimme am anderen Ende.
„Ich habe mich bei der ersten Kontaktaufnahme in der E-Mailadresse geirrt. Es war ein Versehen.“
„Ich verstehe,“ antwortete der Alte zögerlich.
„Wie darf ich Sie nennen? Verraten Sie mir Ihren Namen?“, fragte Konrad.
„Nennen Sie mich ruhig Herr Drache. Ich möchte gern anonym bleiben.“
„Nun gut, Herr Drache. Mir ist zwar unbehaglich dabei, da Sie meinen vollen Namen kennen, aber ich akzeptiere Ihren Wunsch.“
„Ich möchte mir das Bild gern ansehen, bevor ich es kaufe. Wie wäre es, wenn ich Sie besuche?“
„Wie bitte? Nein, das geht auf gar keinen Fall!“, lehnte Konrad ab. „Sie kennen meinen Namen, und jetzt soll ich Ihnen auch noch meine Adresse geben, ohne etwas über Sie zu wissen? Sie könnten von Interpol sein und mir beim Öffnen der Tür Handschellen anlegen. Sie könnten auch ein Raubmörder sein und mich in meinem eigenen Haus umbringen und das Bild stehlen! Das Risiko kann ich nicht eingehen!“
„Denken Sie nicht, dass ich schon längst getan hätte, wovor Sie Angst haben, wenn ich von Interpol oder ein Raubmörder wäre? Wissen Sie nicht, dass ich schon längst weiß, wo Sie wohnen?“
Konrad überkam ein kalter Schauer. Ihm war unwohl zumute. Er konnte hören, wie der Drache einen Zigarettenzug inhalierte und ausatmete.
„Nun gut,“ sagte der Drache langsam. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich überweise Ihnen morgen eine Million Dollar per Western Union. Das Passwort zur Abholung ist ‚Drache von Tarascon‘.  Sobald Sie das Geld bekommen haben, buchen Sie einen Flug nach Tarascon. Sie verpacken das Bild als Sportgerät und geben es als solches am Schalter für Spezialgepäck auf. Gehen Sie in einen Sportausstatter und suchen Sie sich etwas, womit man Snowboards oder Schlitten transportiert. Sie werden schon etwas finden. Oder geben Sie das Bild als Musikinstrument auf und besorgen Sie sich einen Keyboard-Kasten. Am Flughafen werde ich Sie abholen und in mein Schloß bringen. Wenn Ihr Produkt in Ordnung ist, überweise ich Ihnen den Rest des Geldes in Ihrer Anwesenheit und Sie fliegen ohne Bild zurück.“
„Ich werde meinem Freund bescheid sagen, dass er die Polizei rufen soll, wenn ich nach drei Tagen nicht zurück bin!“, antwortete Konrad. Er überlegte verzweifelt, wo der Haken an dem Plan des Drachen sein könnte, an welcher Stelle, der Drache ihn überrumpeln könnte. Aber ihm fiel nichts ein, und die Drohung war das einzige, was ihm zur eigenen Absicherung in den Sinn kam.
„In Ordnung.“, antwortete der Drache und legte auf.
Das Geld war tatsächlich überwiesen.
Der Mann am Schalter erfragte das Passwort und zog sich, nachdem Konrad es ausgesprochen hatte, für einen Moment in die hinteren Räume zurück. Dann kam er wieder und bat um etwas Geduld. Eine Stunde später verließ Konrad mit der kompletten Auszahlung die Bank. Es war unglaublich, aber es funktionierte.
Zuhause angekommen, buchte er einen Flug nach Tarascon. Dann teilte er das Geld durch vier und brachte jeweils eine viertel Million auf zwei verschiedene Konten, packte ein Viertel in seinen eigenen Safe und brachte das verbleibende Viertel zu Martin.
„Martin, ich will, dass Du dieses Geld bei Dir unterbringst. Wenn mir etwas passiert, gehört es Dir. Wenn ich in drei Tagen nicht zurück bin, kontaktiere die Polizei, hörst Du?“
Er ließ Martin, der ein erstauntes Gesicht machte, nicht weiter zu Wort kommen.
„Ich hab’s eilig. Versprichst Du mir, worum ich Dich bitte?“
„Ja“, stammelte Martin nur, bevor Konrad davoneilte. „Ich muss das Bild verpacken und noch ein paar Besorgungen machen“, entschuldigte sich Konrad und blies Martin einen Abschiedskuss zu.

Die Verpackung des Bildes war ein Akt, aber dank der Ratschläge des Drachen, wußte Konrad, wonach er suchen musste. Er fand schließlich einen Schalenbehälter für eine Ski- oder Snowbord-Ausrüstung, der groß genug war, um das Bild darin zu verstauen.
Das Personal am Flugschalter stellte weniger Fragen als gedacht. Sportgepäck wurde ohne viel Aufhebens als zweites Gepäckstück entgegen genommen.
Auf dem Flug versuchte Konrad seine Nervosität in Beck‘s Bier zu ertränken. Der Gedanke daran, dass sein millionenschweres Bild unversichert als Sportgepäck im Cargobereich mitflog, ließ seinen Adrenalinpegel steigen. Und ihm war mulmig zumute, was den Handel anging.
Immer wenn er seine Augen schloss, hörte er das Inhalieren des Zigarettenrauchs am Telefon.
Schließlich landete der Flieger in Toulouse, und eine Stunde später brachte ihn ein kleineres Flugzeug sicher nach Tarascon.
Am Flughafen wurde Konrad von einem Chauffeur erwartet. Dieser trug ein Schild mit Konrads Namen drauf, damit Konrad auf ihn aufmerksam wurde.
„Darf ich Sie bitten, mir zu folgen?“, fragte der Chauffeur höflich.
Konrad nickte müde. Auf dem Gepäckwagen vor ihm lagen ein kleiner Koffer-Rolli und eine große Sportausrüstung.
Der Chauffeur fuhr durch eine kleine Stadt mit verfallenen Häusern und Kletterrosen, die an ihnen emporrankten. Konrad war so von den Rosen in den Bann gezogen, dass er außer ihnen nichts anderes sah.
Ein paar Cafés, ein alter Springbrunnen, ein Antiquitätenladen zogen an ihm vorbei, und überall an den Häuserwänden blühten rote, rosafarbene oder weiße Rosen.
Schließlich bemerkte Konrad eine Burg, ein kleines Schloß. Sie fuhren direkt darauf zu. Er erinnerte sich, dass der Drache von einem Schloß gesprochen hatte. Es mußte also seines sein. Es war ein kleines gothisches Burgschloß mit vier Türmen an dem Ecken, die durch vier hohe Mauern verbunden waren. Im ersten Stockwerk gab es keine Fenster, nur Schießscharten. Der Eingang wurde durch ein schweres Rolltor verschlossen, öffnete sich aber als das Auto näher kam.
Der alte Bentley hielt vor dem Schloßeingang an. Der Chauffeur bot an, Konrads Gepäck hinein zu tragen, aber Konrad trug es lieber selbst.
Er betrat das Schloß mit weichen Knien.
Der Chauffeur führte Konrad in die Bibliothek und hieß Konrad an, zu warten. Und da waren sie alle versammelt: alle Bilder von Vincent Van-Gogh, die im Titel „Tarascon“ trugen.
Was für ein Anblick!
Und dann erschien ein Mann, ganz in weiß, mit einer chinesischen Drachenmaske auf dem Gesicht.
Konrad erschrak.
„Wer sind Sie?“ fragte er.


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